Heft 
(1976) 24
Seite
562
Einzelbild herunterladen

/

betrachten als einer der größten Triumphe des Realismus und als einer der großartigsten Züge des alten Fontane. 2

4

Es ist leicht zu bemerken, daß die angeführte Charakteristik den Worten von Friedrich Engels über Balzac (im Brief an Margaret Harkness von Anfang April 1888) sehr nahe kommt. Engels hatte damals geschrieben: Daß Balzac so gezwungen war, gegen seine eigenen Klassensympathien und politischen Vorurteile zu handeln, daß er die Notwendigkeit des Untergangs seiner geliebten Adligen sah und sie als Menschen schilderte, die kein besseres Schicksal verdienen; und daß er die wirklichen Men­schen der Zukunft dort sah, wo sie damals allein zu finden waren das betrachte ich als einen der größten Triumphe des Realismus und als einen der großartigsten Züge des alten Balzac. 3

Natürlich hat Fontane in seiner Darstellung der bürgerlichen Gesellschaft die Universalität und Tiefe der Verallgemeinerung eines Balzac nicht erreicht. Die Schriftsteller unterscheiden sich auch durch ein ungleiches Maß an Talent. Die nationalen und historischen Gegebenheiten, aus denen ihr Schaffen wuchs, und die ihren Möglichkeiten auf verschiedene Weise Grenzen setzten, sind nun einmal nicht kongruent. In Fontanes Romanen begegnen wir weniger dramatischen Konflikten und nicht so starken Charakteren und heftigen Leidenschaften wie bei Balzac. Und doch hat das Nebeneinander dieser beiden Namen einen Sinn: Balzac und Fontane standen in vieler Hinsicht vor ähnlich gearteten gesell­schaftlichen und historischen Problemen; sie suchten auf ähnlichen Wegen eine Lösung und kamen in manchen Fällen zu analogen Schlüssen.

Fontanes Romane und Erzählungen beinhalten in ihrer Gesamtheit .die Geschichte der deutschen Gesellschaft während der Jahrzehnte nach der Einigung Deutschlandsvon oben. Skeptisch und mit gespannter Auf­merksamkeit verfolgte der Schriftsteller die schnellen Veränderungen des Kaiserreichs, das sich ungestüm auf dem Weg der kapitalistischen Entwicklung dahingleitend auf das entscheidende Gefecht zur Neu­verteilung der Welt vorbereitete. In seinen Briefen und im Tagebuch kommentierte und kritisierte Fontane beständig die Politik der deutschen Regierung, aber noch mehr als diese erregte ihn ihr schädlicher Einfluß auf die Persönlichkeit des Einzelnen und auf den geistigen und sittlichen Zustand der Gesellschaft.

Jahrelang galt die Hauptklage in Fontanes Briefen der chauvinistischen Überheblichkeit und der militaristischen Verblendung der herrschenden Klassen, der erstaunlichen Verbindung von Kriecherei und Kastenhoch­mut, der Gewinnsucht und dem kalten, herzlosen Karrierismus. Und dies war tatsächlich das Hauptübel, aus dem sich alle anderen Mißstände ableiteten. Fontane schrieb am 25. August 1891 an seine Tochter Martha: Das Bourgeoisgefühl ist das zur Zeit maßgebende... ich hasse das Bourgeoishafte mit einer Leidenschaft, als ob ich ein eingeschworner Sozialdemokrat wäre. 4

562