Menschliche Werte, die in der Welt des Bourgeois verachtet wurden, suchte Fontane in einem anderen Lager. Häufig bekannte er seine Sympathien für die Vertreter des Adels, seine Zuneigung für den Junker als einen bestimmten Typus. In einem Brief an seine Frau vom 9. Juli 1884 heißt es, daß die brandenburgischen Junker und die Dorfpastoren ungeachtet ihrer großen Fehler sein Ideal, seine stille Liebe seien. Diese „stille Liebe“ äußert sich (gemeinsam mit der Kritik der „großen Fehler“) auf komplizierte Weise in seinem Schaffen. Ungeachtet seines Hasses gegen den vulgären Geldparvenü und seiner Sympathie für den Adel war Fontane fest überzeugt, daß die historische Entwicklung nicht rückgängig zu machen war; er glaubte nicht an die patriarchalische Idylle der „guten, alten Zeit“, sondern war sich bewußt, daß derartige reaktionäre Ideale zum Untergang verurteilt waren. Im Unterschied zu vielen seiner Zeitgenossen, z. B. zu Wilhelm Raabe, enthielt er sich jeder Idealisierung der vorkapitalistischen Lebensformen. Er empfand keinen Abscheu vor der Zivilisierung der Stadt, sondern begrüßte im Gegenteil den Fortschritt und verurteilte Menschen, Stände und Klassen, die die Forderungen der Zeit nicht begreifen konnten oder wollten.
Fontanes Verständnis für die kapitalistische Entwicklung war von einer Ablehnung der Bourgeoisie begleitet; seine Vorliebe für den Adel kollidierte mit seiner historischen Erkenntnis. Zwar treten neben Junkern, die den politischen Rücktritt verkörpern, in seinen Romanen oft Adlige von ganz besonderer Art auf — großmütig, einfach, natürlich und von einem bedingten „Demokratismus“. Es sind weiße Raben unter den Junkern — Sonderlinge, Originale, mitunter sogar Abtrünnige. Fontane wußte jedoch, daß sie nicht typisch für ihren Stand sind, denn er faßte den Grundgedanken seines Romans „Der Stechlin“ in einem Brief an Carl Robert Lessing vom 8. Juni 1896 in die Worte: „Gegenüberstellung von Adel, wie er bei uns sein sollte und wie er ist.“ 6 Die wahrheitsgemäße Darstellung des Adels, „wie er ist“, war zweifellos einer „der größten Siege des Realismus“ im Schaffen des alten Fontane. Dieser Sieg ist jedoch nicht spontan oder unbewußt. Fontanes Briefe aus seinen letzten Lebensjahren sind voll von Ausfällen gegen den Adel und die maßlose Konzentration politischer Macht in dessen Händen. Am 22. August 1895 schrieb der Dichter z. B. an seine Tochter: „Die Menschheit fängt nicht beim Baron an, sondern nach unten zu, beim vierten Stand; die drei andern können sich begraben lassen.“ 6 Noch deutlicher kommt dieser Gedanke in Fontanes Brief an seinen englischen Freund James Morris vom 22. Februar 1896 zum Ausdruck. Der Zeitung der unabhängigen englischen Arbeiterpartei, dem „Labor Leader“, sein Lob zollend, schrieb er: „Alles Interesse ruht beim vierten Stand. Der Bourgeois ist furchtbar, und Adel und Klerus sind altbacken, immer wieder dasselbe. Die neue, bessere Welt fängt erst beim vierten Stande an ... das, was die Arbeiter denken, sprechen, schreiben hat das Denken, Sprechen und Schreiben der altregiereriden Klassen tatsächlich überholt, alles ist viel echter, wahrer, lebensvoller. Sie, die Arbeiter, packen alles neu an, haben nicht bloß neue Ziele, sondern auch neue Wege.“ 7
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