Die Erkenntnis, daß die Zukunft der Arbeiterklasse gehört, die Fontane — zum Unterschied vieler seiner Zeitgenossen — ohne Vorgefühl eines „Untergangs der Kultur“ und ohne Furcht vor einem „Triumph der Barbarei“ erlangte, zeugt von einem so hohen Niveau geschichtlichen Denkens, wie kein anderer Vertreter des Realismus des 19. Jahrhunderts es erreichte. Zur Arbeiterklasse überzugehen vermochte Fontane allerdings nicht.
Fast alle Werke Fontanes sind einem Thema gewidmet, das einen der Aspekte des Hauptthemas des kritischen Realismus darstellt, nämlich dem Konflikt zwischen Individuum und Gesellschaft. In seinen Romanen geraten Angehörige der höheren Gesellschaftsschichten in ihrer Sehnsucht nach Glück mit den Sitten, Traditionen und Normen ihrer Klasse in Widerspruch. Sie fürchten krasse Ausgänge und entschließen sich nicht, mit ihrem Milieu zu brechen. Fontanes Helden sind keine Kämpfer, die die bestehende Ordnung zerstören oder ändern wollen, sondern in der Mehrzahl schwache Naturen, die vor der Macht der Vorurteile zurückschrecken, vor den „Zwängen“ und Forderungen ihrer Klasse kapitulieren, sich versöhnen oder freiwillig aus dem Leben scheiden.
Fontanes tiefe Sympathie für den „vierten Stand“ fand auch in seinem Schaffen Ausdruck. In allen seinen Werken treten Plebejer auf, die den „Herren“ moralisch überlegen sind. Frei von der Tyrannei gesellschaftlicher Forderungen und von dem Kodex verlogener Ehre überragen sie die Vertreter aus dem Adel und der Bourgeoisie an Natürlichkeit, Güte, Ehrlichkeit und Moral. Aber selbst Fontanes Plebejer-Gestalten gehören zu den „sanften“ Naturen. Ihre Tugenden sind Wahrhaftigkeit und Bescheidenheit sowie das Fehlen von Prätensionen, die über ihre soziale Lage hinausgehen.
Wissensdurst und eine realistische Beobachtung des Lebens halfen Fontane, in viele dunkle Seiten seiner Gegenwart Licht zu bringen. Vor den Widersprüchen, die er nicht zu lösen vermochte, blieb er zwangsläufig stehen. Aus seinen Werken spricht Kritik und Ablehnung der bürgerlichen Gesellschaft im deutschen Kaiserreich, aber auch die Unfähigkeit, sich für eine revolutionäre Umgestaltung des Lebens zu entscheiden.
Fontanes erster epischer Versuch „Vor dem Sturm“ (1878) zeugt noch von der Unerfahrenheit des Schriftstellers. Nachdem er viel Zeit und Arbeit an den Roman gewendet hatte, erkaltete der Autor schließlich selbst gegen ihn und nannte ihn im Brief an seine Frau vom 16. Juni 1883 den Roman, von dem er immer vergäße, daß er ihn geschrieben habe. Ihm folgten die kleinen historischen Erzählungen „Grete Minde“ (1880) und „Ellernklipp“ (1881). Die Krone in der Gestaltung historischer Themen war 1883 „Schach von Wuthenow“. Hier verbinden sich reife Meisterschaft mit deutlich erkennbaren Zügen eines neuen demokratischen Weltbildes. In dieser Erzählung vollzieht sich der endgültige Bruch mit den konservativen altpreußischen Idealen.
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