Die in „Schach von Wuthenow“ beschriebenen Ereignisse spielen im Sommer 1806, in der Woche, die der Niederlage Preußens bei Jena vorausging. Die Handlung der Erzählung sowie die Gedanken und Aussprüche der auftretenden Personep sind von dem baldigen Untergang des durch und durch faulen Regimes durchweht. Diese Untergangsstimmung wird nicht nur durch Beschreibung der historischen Ereignisse erreicht, sondern auch durch Darstellung des privaten Lebens und der Charaktere von Menschen, die die typischen Züge ihrer Zeit und ihrer Gesellschaft tragen. „Schach von Wuthenow“ gehört zu den Werken, die — einem Ausdruck W. G. Belinskis zufolge — „den Zusammenhang der Geschichte mit dem persönlichen Leben“ aufdecken. „Der kleine Mann in den großen Stiefeln“ — diese tödlich treffende Bezeichnung gibt dem vornehmen Junker und altadligen preußischen Offizier Schach von Wuthenow sein Antagonist Bülow, der zum Teil des Autors alter ego darstellt. Doch mit dieser Bezeichnung spielt der kluge Beobachter und Kritiker seiner Zeit nicht nur auf Schach an. Nicht zufällig nennt er ihn „die Verkörperung der preußischen Beschränktheit“; das ganze hochnäsige, mit Ambitionen und Prätensionen angefüllte preußische Königreich, das baufällige Erbe Friedrichs II., war ein Staat „kleiner Leute in großen Schuhen“. Diese Leute, die ihre Schuhe größer trugen, als ihrem Wuchs entsprach, gaben sich Illusionen hin, hielten sich für die Vollstrecker der Geschicke Europas und waren überzeugt, „die Welt ruhe nicht sicherer auf den Schultern des Atlas als der preußische Staat auf den Schultern der preußischen Armee“. In ihrer Blindheit sahen sie nicht, daß ihr Preußen und ihre Armee nach einem Ausspruch Mirabeaus „einer Frucht zu vergleichen war, die schon faul sei, bevor sie noch reif geworden“, daß ihre letzten Tage angebrochen waren.
Die Geschichte des Untergangs von Schach von Wuthenow ist die von symbolischem Gehalt erfüllte Vorgeschichte des Untergang des alten Preußens. Schach wird ein Opfer seiner verlogenen Ehrbegriffe und seiner Leidenschaft für äußeren Glanz und Flitter, die er mehr schätzt als geistige und moralische Werte. An derselben Krankheit litt auch das feudal-absolutistische Preußen. Als Resümee des Autors heißt es am Schluß der Erzählung durch den Mund Bülows am Vorabend der Schlacht bei Jena: „Der Krieg ist erklärt. Und was das bedeutet, steht in aller Deutlichkeit vor meiner Seele. Wir werden an derselben Welt des Scheins zugrunde gehen, an der Schach zugrunde gegangen ist.“ 8 In den Jahren, als Fontane mit „Schach von Wuthenow“ den Zyklus seiner historischen Romane beendete, arbeitete er gleichzeitig an seiner ersten Erzählueg über ein zeitgenössisches Thema: „L’Adultera“ (1882). Der hier gestaltete Hauptkonflikt, der schon in „Schach von Wuthenow“ angeklungen hatte, zieht sich wie ein roter Faden durch alle späteren Romane und Erzählungen Fontanes: der Zusammenstoß des Einzelnen mit der Despotie gesellschaftlicher Normen, mit der allem Glück feindlichen Macht falscher Moral und verlogener Ehrbegriffe. Wir begegnen immer wieder demselben Sujet: Der Held oder die Heldin, die ein Gefühl verbindet, geraten in Widerspruch zu den Traditionen, Gewohnheiten
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