und Vorurteilen ihrer Klasse; die grausame Macht der überlieferten Normen besiegt den Elan der Helden. Im Gegensatz zu Fontanes späteren Erzählungen gelingt es der Hauptgestalt in „L’Adultera“, Melanie van der Straaten, den ungeliebten Ehemann und die Familie zu verlassen und an der Seite eine geliebten Mannes ein neues Leben zu beginnen und die Achtung ihrer Mitmenschen zu gewinnen. Eine bedeutende künstlerische Leistung vollbringt Fontane in dieser Erzählung in der Gestaltung des Ehemanns von Melanie, des Kommerzienrats van der Straaten, eines Mannes, der „an der Börse bedingungslos galt, in der Gesellschaft nur bedingungsweise“. In der psychologischen Darstellung van der Straatens zeigt sich deutlich sein sozialer Typus: seine Stellung im Leben und in der Gesellschaft wird nicht durch seine Eigenschaften, sondern nur durch sein Geld bestimmt. Hier offenbart sich die gegen die Bourgeoisie gerichtete Spitze des Romans, vfie sie von nun ab alle Werke Fontanes durchzieht und in „Frau Jenny Treibei“ einen Höhepunkt erreicht.
Dem Thema und dem Sujet von „L’Adultera“ steht die Erzählung „Cecile“ (1886) nahe; in den achtziger Jahren beendete Fontane überdies die beiden Romane „Irrungen-Wirrungen“ (1888) und „Stine“ (1890). Sujetgrundlage des Romanes „Irrungen-Wirrungen“ ist die Liebesgeschichte des Gardeoffiziers Baron Botho von Rienäcker und der Näherin Lene Nimptsch. Hier macht sich schon ein besonderer Zug in Fontanes Schaffen bemerkbar, der in seinen späteren Werken noch ausgeprägter wird: das außerordentliche Interesse an Leuten „aus dem vierten Stande“. Neben Adligen, Kaufleuten, Offizieren und Beamten treten immer häufiger Näherinnen, Bedienstete, Kutscher und Gärtner auf, deren Güte, Menschlichkeit, Humor, Natürlichkeit und Einfachheit sie ihrer Herrschaft überlegen sein lassen.
Botho ist nicht irgendein abgeschmackter Verführer; er liebt Lene aufrichtig, ist wohlwollend und einfach und gehört keineswegs zu den schlechtesten Vertretern seines Standes. Aber wie er im Vergleich zu Lene charakterschwach und träge ist, so ist er auch egoistisch in der Liebe. In Lenes moralischer und willensmäßiger Überlegenheit ist auch eine soziale Überlegenheit enthalten. Die Vertreter des Plebejertums sind dank der Bedingungen ihres Standes frei von den sinnlosen und unmenschlichen Vorurteilen, den verlogenen Begriffen von Ehre und Pflicht und anderen grausamen Fetischen, denen sich die Vertreter der „höheren“ Gesellschaft freiwillig oder unfreiwillig beugen müssen.
Und dennoch, gleichzeitig mit diesen Schlußfolgerungen, die mehr als kritisch sind im Hinblick darauf, was gesellschaftlichen Führungsanspruch hat, zieht sich durch den ganzen Roman der Gedanke von der Not Wendigkeit, Standesunterschiede zu bewahren, von der Verderblichkeil eines Anschlags auf die Traditionen und moralischen Stützen des bestehenden Verhältnisses zwischen den oberen und den unteren Klassen Im Brief an Friedrich Stephany vom 16. Juli 1887 drückt Fontane den Hauptgedanken von „Irrungen-Wirrungen“ so aus: „Ja, Sie haben es
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