Heft 
(1976) 24
Seite
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vorzüglich getroffen:Die Sitte gilt und muß gelten, aber daß sies muß, ist mitunter hart. Und weil es so ist, wie es ist, ist es am besten, man bleibt davon und rührt nicht dran. Wer dies Stück Erb- und Lebensweis­heit mißachtet von Moral spreche ich nicht gern ..., der hat einen Knacks fürs Leben weg . 9

Es sieht so aus, als sei der Roman mit dem sechzehnten Kapitel zu Ende. Der Konflikt ist gelöst: Botho hat sich von Lene getrennt und Käthe von Sellenthin geheiratet. Die Verbindung auf Zeit zwischen dem Baron und der Näherin ist aus. Wozu noch die folgenden zehn Kapitel, in denen nichts Besonderes geschieht? Sind sie nicht überflüssig? Keineswegs! In der Konzeption des Autors sind diese zehn Kapitel sehr notwendig, weil sie zeigen sollen, daß nach der Trennung Bothos und Lenes, nach ihrer Rückkehr in das frühere Leben,nichts Besonderes vor sich geht. Die Helden erholen sich nach und nach von den durchstandenen Er­schütterungen. Für Botho erweist sich die Ehe nicht nur als materiell vorteilhaft, sondern auch keineswegs als Belastung, denn seine Frau liebt ihn; sie ist schön und heiter und hat einen angenehmen Charakter. Auch für Lene findet sich ein guter Mann, der sie heiratet und dem Vergangenen keine Bedeutung beimißt. Von der Liebe der Beiden bleibt nichts als ein paar Erinnerungen. Der Leser ist überzeugt, daß der Sieg der altgewohnten Prinzipien nicht ins Chaos führt, sondern im Gegenteil zur Wiederherstellung der Ordnung im Leben der Helden. Die Kompo­sition des Romans ist ein vollkommener Ausdruck der Absichten des Autors.

Eine weitere Besonderheit vonIrrungen-Wirrungen liegt darin, daß die Hauptthemen der Geschichte von parallel sich entwickelnden und miteinander verbundenen Varianten begleitet sind. So ist z. B. Lenes Geschichte durch die der Frau Dörr variiert. Die Dramatik von Lenes Schicksal, der Widerspruch zwischen der Reinheit ihrer Gefühle und ihrer in gesellschaftlicher Hinsicht zweideutigen Lage als Geliebte eines Aristokraten, wird durch verschiedene Beispiele hervorgehoben, die einerseits Lenes Geschick ähneln, andererseits in Kontrast zu ihm stehen. Die Freundin der Familie Nimptsch, Frau Dörr, war in ihrer Jugend die Maitresse eines alten Grafen. Lene erzählt:Sie spricht davon, wie von einem unbequemen Dienst, den sie getreulich und ehrlich erfüllt hat, bloß aus Pflichtgefühl . 10 Lene ist keine Maitresse; sie erarbeitet ihren Lebensunterhalt mit ihren Händen und liebt Botho aufrichtig und uneigennützig. Und dennoch erkennt sie die Analogie dieses Falles zu dem ihren, auch wenn es sich um rein Äußerliches handelt, und spürt so das Erniedrigende ihrer eigenen Lage.

Noch deutlicher wird das Dramatische in Lenes Schicksal in der Picknick- Episode, in der Botho und Lene zufällig drei Offizieren mit ihren Gelieb­ten begegnen. Diese Begegnung zerstört jäh die bis dahin vorherrschende lichte Atmosphäre gegenseitiger Liebe, die den Gedanken an ihre soziale Ungleichheit verdrängte. Lene erkennt beim Anblick ihrer unglücklichen Freundinnen, dieser habgierigen, vulgären, jeder Würde baren Maitres-

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