sen, ihr eigenes, wenn auch verzerrtes Bild. Erscheint sie, Lene Nimptsch, nicht in den Augen der anderen, vielleicht sogar in Bothos Augen, als ein ebensolches Wesen? Und Botho selbst zeigt sich in einem anderen, unerwarteten Licht: im Verein mit seinen Kameraden, diesen weltlichen Bonvivants, geht er auf einen lässig-ironischen Ton über, aus dem eine Mißachtung der „Damen“ und das Bewußtsein seiner standesmäßigen Überlegenheit herauszuhören ist.
Nur wenige Monate trennen „Irrungen-Wirrungen“ und die Erzählung „Stine“- voneinander; doch obgleich in letzterer dasselbe Problem behandelt wird und hier fast dasselbe Sujet zugrunde liegt, sind die Akzente ganz anders gesetzt. Ein vollkommen anderes Verhältnis des Autors zum „Vernünftigen“ und „Gerechten“ der bestehenden Ordnung kommt zum Ausdruck. Im Gegensatz zum idyllischen Finale von „Irrungen- Wirrungen“ endet „Stine“ tragisch: der junge Graf Waldemar von Haldern empört sich um seiner Liebe zu der jungen Strickerin willen gegen die überkommenen Gesetze. Doch ist er keine Kämpfernatur und endet durch Selbstmord.
In „Stine“ ist die Überlegenheit der Plebejer-Gestalten über die „Hochwohlgeborenen“ noch deutlicher als in Fontanes früheren Werken. Das zeigt sich weniger in der Heldin der Erzählung, als vielmehr in ihrer Schwester, der Witwe Pittelkow. Diese Figur ist künstlerisch äußerst gelungen, was Fontane selbst empfand und in dem Vierzeiler festhielt:
Will dir unter den Puppen allen
Grade „Stine“ nicht recht gefallen,
Wisse, ich finde sie selbst nur soso, —
Aber die Witwe Pittelkow!
Der 1892 erschienene Roman „Frau Jenny Treibei“ war das Ergebnis langjähriger Überlegungen. Schon am 9. Mai 1888, als er die ersten Skizzen dazu entwarf, drückte Fontane den Hauptgedanken des Romans in einem Brief an seinen Sohn Theo so aus: „Zweck der Geschichte: das Hohle, Phrasenhafte, Lügnerische, Hochmütige, Hartherzige des Bourgeoisiestandpunkts zu zeigen, der von Schiller spricht und Gerson meint.“ 11 Fast zehn Jahre später charakterisierte Fontane in seinen Memoiren die Leute mit „Geldsackgesinnung“ mit den Worten: „Alle geben sie vor, Ideale zu haben; in einem fort quasseln sie vom ,Schönen, Guten, Wahren“ und knicksen doch nur vor dem Goldnen Kalb... Jeder erscheint sich als ein Ausbund von Güte, während in Wahrheit ihr Tun nur durch ihren Vorteil bestimmt wird, was auch alle Welt einsieht, nur sie selber nicht. Sie legen sich vielmehr alles aufs Edle hin zurecht und beweisen sich und andern in einem fort ihre gänzliche Selbstsuchtslosigkeit. Und jedesmal, wenn sie diesen Beweis führen, haben sie etwas Strahlendes.“ 12 Die gegen die Bourgeoisie gerichtete Kritik, die in solchen in den achtziger und neunziger Jahren bei Fontane häufig anzutreffenden Äußerungen enthalten ist, kennzeichnet auch die Richtung des Romans „Frau Jenny Treibei“; solche Äußerungen sind gewissermaßen Entwürfe zum Porträt der Hauptheldin.
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