Heft 
(1976) 24
Seite
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Der Widerspruch zwischenSchein undSein, zwischen sichtbarer Reklame und dem verborgenen Wesen ist der wesentlichste Zug im Charakter der Frau des Kommerzienrats, Jenny Treibel. In ihren Augen ist sie uneigennützig und ideal veranlagt und verachtet alles Niedrige, vor allem Geld und materiellen Wohlstand. Und diese Vorstellung von sich selbst will sie auch ihrer Umwelt suggerieren. Wer jedoch Jenny Treibel schon seit langem, schon als Fräulein Bürstenbinder, kennen­gelernt hat, läßt sich von ihr nichts vormachen. Für den Professor Willi­bald Schmidt, der, wenn ernicht Professor wäre... am Ende Sozial­demokrat geworden wäre, ist sieder Typus der Bourgeoisie,eine gefährliche Person, und um so gefährlicher, als sies selbst nicht recht weiß und sich aufrichtig einbildet, ein gefühlvolles Herz und vor allem ein Herz ,für das Höhere 1 zu haben. Aber sie hat nur ein Herz für das Ponderable, für alles, was ins Gewicht fällt und Zins trägt . 13

Die Gestalt Jenny Treibeis führt den Leser in die Welt des Bourgeois, in eine unmenschliche Welt, in der das Geld über die Gefühle herrscht imd in der auf materielle Vorteile zielende Berechnung das Schicksal der Menschen bestimmt. Jenny Treibel ist die am farbenreichsten gezeich­nete Vertreterin dieser Welt, aber sie wird durch verschiedene andere Personen vervollständigt. So vor allem durch ihre Schwägerin Helene, die Tochter der Hamburger patrizischen Kaufmannsfamilie Munk, die sich auf ihr altes Geschlecht (besser auf die Firma!) etwas einbildet. Noch mehr als Jenny Treibel ist sie voller Überheblichkeit und Eitelkeit und bis zur Abnormität auf Etikette bedacht. Ihr Kaufmannsstolz ruht auf dem widerlichen Prinzip, den Wert eines Menschen nach dem Gewicht seines Geldbeutels zu messen. Daher rührt auch Jennys und Helenes prahlerischer Hochmut und der lächerliche Kampf derDy­nastien der Treibeis und der Munks, der von giftigen Bemerkungen an die Adresse derTreibeis und derHamburger begleitet ist. Diese Sticheleien hören jedoch auf, sowie den gemeinsamen kommerziellen Interessen der beiden Firmen Gefahr droht. Angesichts einer möglichen Ehe des jüngsten Treibel mit Corinna Schmidt erlischt der Streit um die kaufmännische Überlegenheit und die Feinde von gestern werden Ver­bündete.

Der Kommerzienrätin Treibel und den um sie gruppierten Personen sind Willibald Schmidt, seine Freunde und Kollegen sowie seine Hausgenossen, insbesondere Corinna, gegenübergestellt. Gewiß, der alte Professor, dem der Autor seine eigenen Gedanken in den Mund legte, gehört zu den kompromißbereiten Naturen. Er bewahrt zwar seine Unabhängigkeit in Bezug auf die Götzen der Bourgeoisie; Menschen vom Typ Jennys durch­schaut er und charakterisiert sie unerbittlich. Doch findet er Genüge im Bewußtsein seiner moralischen Überlegenheit: er ist ein Räsonneur, aber kein Kämpfer, er ist voller Ironie, aber ohne Zorn, der zum entschei­denden Handeln zwingen würde.

Doch gibt es im Hause der Schmidts einen Menschen, dessen Moralbegriffe einen natürlichen Übergang zum Handeln bilden. Das ist die Haushälte-

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