Heft 
(1976) 24
Seite
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Meyer beobachten läßt, ist vielmehr aus der Zeitgeschichte heraus zu erklären. Die Novelle mit ihrer spezifischenBeschränkung und Isolierung auf einzelne Momente von poetischem Interesse (G. G. Gervinus) war am ehesten geeignet, die Krisensituation des Bürgers nach 1848 widerzu­spiegeln. Ein geschlossenes Weltbild besaß das deutsche Bürgertum nicht mehr, seine politischen Ambitionen waren gescheitert, und so trat das Private, das Individuelle, der interessante Einzelfall hervor, der mit den Mitteln der Novelle darstellbar war. Trotz dieser gattungsbedingten Beschränkung gelangen Gottfried Keller in seinen Novellenzyklen kom­plexe Abbilder der Wirklichkeit, und Storm hat mit der Mehrzahl seiner Geschichten seine eigene Feststellung bewiesen, daß sich die Novelle zur Aufnahme auch des bedeutendsten Inhalts eigne.

Paul Heyse dagegen begrenzt die thematischen Möglichkeiten der Novelle von vornherein auf die Bedürfnisse seiner individualistischen Welt­anschauung und beraubt die damit weitgehend jeder realistischen Potenz.' In der Novelle brachte er (nach seiner Definition in der Einleitung zum Deutschen Novellenschatz)gerade die tiefsten und wichtigsten sitt­lichen Frage zur Sprache,weil in dieser bescheidenen dichterischen Gattung auch der Ausnahmefall, das höchst individuelle und allerpersön­lichste Recht im Kampf der Pflichten, seine Geltung findet. Mit diesen Worten gibt Heyse die zentrale Thematik seines gesamten Novellen­werkes an. In immer neuen Variationen hat er jenesittlichen Fragen an erotischen Stoffen erörtert, hat er dasallerpersönlichste Recht des Individuums als Schönheitsbedürfnis und Glückserfüllung proklamiert und gestaltet. Die meisten seiner Erzählungen ließen sich sinnvoll unter seinem NovellentitelDie Reise nach dem Glück vereinigen, und auch Fontane war. überzeugt, daß sichdie Heysesche Doktrin oder Lebens­auffassung an keiner anderen seiner Arbeiten so rein demonstrieren lasse.

Heyse war mit alledem keingesellschaftlicher Schriftsteller, wie Fon­tane ihn forderte. Gewiß, er verherrlichte in den Mädchengestalten aus dem italienischen Volke eine sinnenfreudige Diesseitigkeit. In ihrer Na­türlichkeit, in ihrer unbändigen Lebenslust sind sie durchaus als pole­mische Gegenstöcke zur lebensuntüchtigenhöheren Tochter deutscher Herkunft gedacht. Er schildert die großen Leidenschaften unter südlichem Himmel, um sie mit der schwindsüchtigen Lahmheit der deutschen Philister zu konfrontieren, die vor lauter Frömmigkeit und moralischen Tabus das irdische Glück nicht finden können. Besonders drastisch trat diese betont weltliche, atheistische Grundhaltung Heyses in dem Erfolgs­roman ..Kinder der Welt hervor, den Georg Brandes, ein enthusiastischer Bewunderer Heyses, in seinem EssaybandModerne Geister (Heyse steht darin an erster Stelle!) einenwürdigen und vornehmen Protest gegen die nannte,welche noch in unseren Tagen die Denk- und Lehr­freiheit fesseln wollen. Heyses Schönheitskult im Gewände des Eros schockierte die Zeitgenossen nicht wenig, die sich bekanntlich scheuten. Wörter wieHose oder garBrust in den Mund zu nehmen. Bismarck

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