Meyer beobachten läßt, ist vielmehr aus der Zeitgeschichte heraus zu erklären. Die Novelle mit ihrer spezifischen „Beschränkung und Isolierung auf einzelne Momente von poetischem Interesse“ (G. G. Gervinus) war am ehesten geeignet, die Krisensituation des Bürgers nach 1848 widerzuspiegeln. Ein geschlossenes Weltbild besaß das deutsche Bürgertum nicht mehr, seine politischen Ambitionen waren gescheitert, und so trat das Private, das Individuelle, der interessante Einzelfall hervor, der mit den Mitteln der Novelle darstellbar war. Trotz dieser gattungsbedingten Beschränkung gelangen Gottfried Keller in seinen Novellenzyklen komplexe Abbilder der Wirklichkeit, und Storm hat mit der Mehrzahl seiner Geschichten seine eigene Feststellung bewiesen, daß sich die Novelle „zur Aufnahme auch des bedeutendsten Inhalts“ eigne.
Paul Heyse dagegen begrenzt die thematischen Möglichkeiten der Novelle von vornherein auf die Bedürfnisse seiner individualistischen Weltanschauung und beraubt die damit weitgehend jeder realistischen Potenz.' In der Novelle brachte er (nach seiner Definition in der Einleitung zum „Deutschen Novellenschatz“) „gerade die tiefsten und wichtigsten sittlichen Frage zur Sprache“, „weil in dieser bescheidenen dichterischen Gattung auch der Ausnahmefall, das höchst individuelle und allerpersönlichste Recht im Kampf der Pflichten, seine Geltung findet“. Mit diesen Worten gibt Heyse die zentrale Thematik seines gesamten Novellenwerkes an. In immer neuen Variationen hat er jene „sittlichen Fragen“ an erotischen Stoffen erörtert, hat er das „allerpersönlichste Recht“ des Individuums als Schönheitsbedürfnis und Glückserfüllung proklamiert und gestaltet. Die meisten seiner Erzählungen ließen sich sinnvoll unter seinem Novellentitel „Die Reise nach dem Glück“ vereinigen, und auch Fontane war. überzeugt, daß sich „die Heysesche Doktrin oder Lebensauffassung“ an keiner anderen seiner Arbeiten so rein demonstrieren lasse.
Heyse war mit alledem kein „gesellschaftlicher Schriftsteller“, wie Fontane ihn forderte. Gewiß, er verherrlichte in den Mädchengestalten aus dem italienischen Volke eine sinnenfreudige Diesseitigkeit. In ihrer Natürlichkeit, in ihrer unbändigen Lebenslust sind sie durchaus als polemische Gegenstöcke zur lebensuntüchtigen „höheren Tochter“ deutscher Herkunft gedacht. Er schildert die großen Leidenschaften unter südlichem Himmel, um sie mit der schwindsüchtigen Lahmheit der deutschen Philister zu konfrontieren, die vor lauter Frömmigkeit und moralischen Tabus das irdische Glück nicht finden können. Besonders drastisch trat diese betont weltliche, atheistische Grundhaltung Heyses in dem Erfolgsroman ..Kinder der Welt“ hervor, den Georg Brandes, ein enthusiastischer Bewunderer Heyses, in seinem Essayband „Moderne Geister“ (Heyse steht darin an erster Stelle!) einen „würdigen und vornehmen Protest gegen die“ nannte, „welche noch in unseren Tagen die Denk- und Lehrfreiheit fesseln wollen“. Heyses Schönheitskult im Gewände des Eros schockierte die Zeitgenossen nicht wenig, die sich bekanntlich scheuten. Wörter wie „Hose“ oder gar „Brust“ in den Mund zu nehmen. Bismarck
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