Heft 
(1976) 24
Seite
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für den deutschen Bildungsroman noch für die amerikanische Tradition derromance selbstverständlich waren.

In Fontanes kritischen Schriften steht der Begriff des Wahren im Gegen­satz zur romantisch-idealistischen Verbrämung und Überhöhung, zum Sentimentalen, zum Überschwenglich-Phrasenhaften, aber auch zur Ex­tremposition naturalistischer Elendsschilderung.Realismus, so schreibt Fontane schon 1853,ist die Widerspiegelung alles wirklichen Lebens ... er will das Wahre. Er schließt nichts aus als die Lüge, das Forcierte, das Nebelhafte, das Abgestorbene vier Dinge, mit denen wir glauben, eine ganze Literaturepoche bezeichnet zu haben. 8 Mit dem Begriff des Wahren umreißt Fontane eine ästhetische Mittelposition, die er sowohl von einer rein mimetischen Schreibpraxis wie auch von romantisch- idealistischer Kunstausübung abgrenzt. Sein anti-idealistischer, anti­romantischer Affekt richtet sich freilich ähnlich wie bei Howells Pole­mik gegen die überkommeneromance nicht gegen die legitimen Produkte jener Literaturepoche, vielmehr gegen deren epigonale Verlän­gerung in die zweite Jahrhunderthälfte. Das wird besonders klar ersicht­lich aus seiner bekannten Rezension von Gustav Freytags Ahnen (1875), in der er innerhalb einer romantypologischen Skizze seine Vorbehalte gegenüber demdramatischen, demromantischen und demhisto­rischen Romantyp ausdrückt. Der früher etwas zu globale, inhaltlich unbestimmte Begriff des realistisch Kunstwahren wird nun an einen spezifischen Gegenstand, die zeitgenössische Gesellschaft, und an einen bestimmten Romantyp gebunden, den Typ des Zeitromans.Der moderne Roman soll ein Zeitbild'sein, 7 so lautet die Grundsatzentscheidung, die von nun an seine kritische Reflexion wie auch sein eigenes Roman­schaffen weitgehend bestimmen wird. Er läßt damit die bedeutendste deutsche Romantradition des 19. Jahrhunderts, den Bildungs- und Entwicklungsroman, weit hinter sich. Es ist ein Bruch mit der Idee individualistischer Selbstvervollkommnung, mit dem Pathos der Identi- tatssuche und auch, wie Thomas Mann pointiert sagt, ein Verzicht auf das ahndevoll Musikalische, das brünstig Metaphysische, die trübe Tiefe. 8

Ebenso wie Fontane mit seinem Alterswerk, dem Werk einer literatur­historischenVerspätung, 0 zum gesellschaftlichen Schriftsteller euro­päischen Formats wird, so stellt auch das Howellssche Werk der 80er und 90er Jahre den späten Anschluß der amerikanischen Literatur an den europäischen Prosarealismus her. 10 Setzt Fontane seinen Zeitroman einer­seits den historisierenden und romantisierenden Romanen der G. Freytag, F. Dahn und V. Scheffel, andererseits dem Genre des erzählerisch intro­vertierten Bildungs-, Entwicklungs- und Künstlerromans entgegen, so entsteht auf ähnliche Weise das Werk von Howells aus der Opposition gegen die verschiedenen Spielarten der Prosaromanze (romance), sei es in der Nachfolge Scotts, 11 Coopers oder Hawthomes, 12 sowie vor allem gegen die historischen Populärromane der Zeit, etwa Lew Wallaces Ben Hur, Edward Bulwers The Last Days of Pompeii oder die Groß­produktion eines Francis Marion Crawford.

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