Pastor Lorenzen zum Sprachrohr einer sozialistischen Zukunftsvision wird.
Trotz aller historisch und politisch bedingten Unterschiede zwischen den sozialen Strukturen Amerikas und denen des deutschen Kaiserreichs in den letzten drei Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts ist die literarische Gestaltung dieser Strukturen bei beiden Autoren erstaunlich gleichartig. Sowohl in Howells’ Darstellung des amerikanischen „Gilded Age“ wie in Fontanes Gestaltung der Gründer- und Nachgründerzeit besteht eine alles Einzelgeschehen beherrschende zeitgeschichtliche Grundspannung zwischen den alten, langsam absterbenden Kräften einer aristokratischen bzw. patrizischen Oberschicht einerseits und den neuen, auf Industrialisierung, Urbanisierung und Kommerzialisierung drängenden Kräften der Bourgeoisie andererseits. Was bei Fontane die Stechlins, Poggenpuhls, Halderns und Rienäckers darstellen, das vertreten bei Howells die Coreys, Athertons, Bellinghams und Woodburns. Die wohlbegüterten und aggressiven Treibeis, Van der Straatens und Gundermanns finden bei Howells ihre Entsprechungen vor allem in dem Farbenkönig Lapham und dem deutsch-amerikanischen Spekulanten Dryfoos, der seine dubiosen Geschäftspraktiken von der Standard Oil Company gelernt hat. Die ökonomische Grundspannung wird freilich in Howells’ Romanen erzählerisch schärfer artikuliert als bei Fontane; wirtschaftliche Entscheidungen und finanzielle Transaktionen sind wichtige Bestandteile der Handlungsvorgänge, besonders in Silas Lapham und A Hazard of New Fortunes. Aber auch bei Fontane werden hinter der zwischenmenschlich-gesellschaftlichen Problematik immer wieder entscheidende ökonomische Faktoren sichtbar: aus wirtschaftlichen Gründen muß Botho von Rienäcker letzten Endes die „liebe Puppe“ Käthe heiraten und kann Haldem seine Stine nicht heiraten, und aus denselben Gründen hält Leo von Poggen- puhl verzweifelt nach einer gutbetuchten Untemehmertochter Ausschau. Die ökonomischen Umwälzungen sowohl im Amerika der Nachbürgerkriegszeit wie im neugegründeten deutschen Reich verurteilen die patrizische bzw, feudale „leisure dass“ zum Untergang. „Wir sind nicht mehr dran“, stellt der alte Oberst von Poggenpuhl resigniert fest. 21 Der alte Bromfield Corey, ästhetisierender Patriarch einer Bostoner Gesellschaftskaste, in der „Middlesexes have married Essexes and produced Suffolks for two hundred and fifty years“, trägt dasselbe Bewußtsein in sich: „We represent a faded tradition“, denn „Money is ... the romance, the poetry of our age.“ 22
„The novel of manners“, so lautet die bündige Definition eines amerikanischen Kritikers, „is primarily concerned with social conventions as they impinge upon character.“ 23 Die bedeutsame Gemeinsamkeit des Howellsschen und Fontaneschen Gesellschaftsromans liegt in der kritischanalytischen, wenn auch humoristisch gedämpften (oder „verklärten“) Darstellung menschlicher Milieu- und Klassenbefangenheit. In unzähligen Abwandlungen zeitgeschichtlich repräsentativer Motive und Gestalten erscheint bei beiden Schriftstellern als Generalthema immer wieder der Konflikt zwischen individuellem Glücksstreben einerseits und den
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