sozialen Zwängen, Verhaltensnormen und Anpassungsmechanismen andererseits. Beide Autoren stellen diesen Konflikt mit Vorliebe am Verhältnis zwischen den Geschlechtern dar. Ebenso wie Effi Briests Ehe zerbricht Marcia und Bartley Hubbards Ehe in A Modern Instance an den sozialen Zwängen, denen vor allem jeweils der männliche Partner ausgeliefert ist. Und am Motiv der Mesalliance demonstrieren beide Autoren kritisch die repressiven Wertvorstellungen status- und traditionsverhafteter Oberschichten sowie den geringen Spielraum individueller Selbstbestimmung. Der Ehe- und Liebesroman wird somit zum Zeitroman . 24
Die kritische Analyse der zeitgenössischen Gesellschaft im Medium des Großstadtromans führt bei Fontane und Howells weder zur aggressiven Satire noch zu einer eindeutig fixierbaren sozialen oder politischen Programmatik. Angesichts dieses Mangels — wenn es ein Mangel ist — mag ihr wohltemperierter Realismus uns heute etwas zu zahm und zu viktorianisch-unterhaltsam erscheinen. Es sei jedoch nicht vergessen, daß dieser gemäßigte sozialkritische Realismus sowohl in Deutschland wie in Amerika erst ein Beginn war. Nicht nur Thomas Mann, auch Heinrich Mann fühlte sich dem Fontaneschen Werk zutiefst verpflichtet. In Amerika fand der Howellssche Realismus seine radikalere und aggressivere Fortsetzung in den sozialkritischen Romanen von Stephen Crane, Frank Norris, John Dos Passos und Theodore Dreiser.
Anmerkungen
1 W. D. Howells, Literature and Life, New York -J- London 1902, S. 114—5.
2 W. D. Howells, „Heine“, My Literary Passions: Critism and Fiction, New York + London 1895, S. 124-130.
3 Siehe William W. Betts, jr., „The Relations of William Dean Howells to German Life and Letters“, in Anglo-German and American-German Cross- currents, Bd. I, hg. von Philip A. Shelley et al., Chapel Hill 1957, S. 189—239.
4 Theodor Fontane, Aufzeichnungen zur Literatur. Ungedrucktes und Unbekanntes, hg. von Hans-Heinrich Reuter, Berlin und Weimar 1969, S. 152—4. In den Anmerkungen gibt Reuter irrtümlicherweise als Erscheinungsjahr für A Fore- gone Conclusion das Jahr 1874 (statt 1875) an.
5 ebenda, S. 154.
6 „Unsere lyrische und epische Poesie seit 1848“, in Theodor Fontane, Sämtliche Werke. Aufsätze, Kritiken, Erinnerungen, Bd. I (hg. von Walter Keitel und Jürgen Kolbe, München 1969), S. 242.
7 ebenda, S. 319.
8 Thomas Mann, „Der alte Fontane“, Adel des Geistes, Stockholm 1959, S. 488.
9 Siehe Hans-Heinrich Reuter, „Die Geschichte einer Verspätung“, Fontane, München 1968, Bd. I, S. 27-49.
10 In einem Lebensrückblick sagt Howells: „We studied from the French masters, the Continental masters, to imitate nature, and gave American fiction the bent which it still keeps wherever it is vital“ (William Dean Howells, Criticism and Fiction and Other Essays, hg. von Clara M. Kirk und Rudolf Kirk, New York 1959, S. 370).
11 Nach Howells' Meinung baute Walter Scott „pasteboard castles“ (Criticism and Fiction and Other Essays, S. 90). Fontanes ursprüngliche Bewunderung für Scott wandelte sich später zu einer recht kritischen Einstellung, wie besonders aus einer unter der Jahreszahl 1877 gemachten Eintragung in den bisher unveröffentlichen Tagebüchern (Fontane-Archiv, Potsdam) hervorgeht. Er spricht dort von einem „Element des Oberflächlichen“ und von „Fluddrigkeit“ in Scotts Werk.
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