Vergleichen wir das impressionistische und das Spruchgedicht bei Fontane und Kerr:
Fontane
Mittag
Am Waldessaume träumt die Föhre,
Am Himmel weiße Wölkchen nur;
Es ist so still, daß ich sie höre,
Die tiefe Stille der Natur.
Rings Sonnenschein auf Wies und Wegen, Die Wipfel stumm, kein Lüftdien wach, Und doch, es klingt, als ström’ ein Regen leis tönend auf das Blätterdach. 7
Havelschwäne, grüne Blätter,
Menschenbeene, Hundtagswetter.
Menschen beiderlei Geschlechts.
Ein Gepaddel, ein Geächz.
Selig, wer ans Ufer sockt Und bei seiner Gruppe hockt.
Langes Schmoren, langes Sonnen.
Manche Neigung hat begonnen.
Triefend singt ein junges Paar:
,,s’ war ein Sonntag hell und klar“ ...
Havelschwäne, grüne Blätter,
Menschenbeene, Hundtagswetter. 8
„Mittag“ ist eine reine Naturstimmung. „Freibad“ ist ein urbanes Naturgedicht, das in der Stadt gleichsam auf der Suche nach der Natur ist. „Mittag“ ist innerlicher, aber zugleich dynamischer. „Freibad“ ist stärker impressionistisch durch die Offenheit in Inhalt und Form. Es gelangt zu keiner spürbaren Steigerung und Abrundung in der Entwicklung des lyrischen Gedankens und endet, wie viele eigentlich entwicklungslose Gedichte Kerrs namentlich aus der Zeit vor 1930, mit den Anfangsversen, um einen äußerlichen Abschluß zu erreichen.
Auch in der Musikalität ergeben sich Unterschiede. Die Melodik der gleichsam graphischen „Mittag“-Verse ist verhalten und innerlich; die Klang- haftigkeit der „Freibad“-Strophen ist zwar auch durch den Berliner Dialekt sensibilisiert und scheinbar kulinarischer, aber insgesamt doch äußerlicher. Die Großstadtgedichte Kerrs erweisen sich damit stilistisch auch Liliencron stark verpflichtet.
Am Leben bilanzierenden Spruchgedicht wird der zwischen Kerr und Fontane eben beobachtete Unterschied noch deutlicher. 9
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