Fontane
So und nicht anders
Kerr
Die Menschen kümmerten mich nicht viel, Eigen war mein Weg und Ziel.
Ich mied den Markt, ich mied den Schwarm, Andre sind reich, ich bin arm.
Andre regierten (regieren noch),
Ich stand unten und ging durch’s Joch.
Entsagen und lächeln bei Demütigungen,
Das ist die Kirnst, die mir gelungen.
Und doch, wär’s in die Wahl mir gegeben,
Ich führte noch einmal dasselbe Leben.
Und sollt’ ich noch einmal die Tage beginnen, Ich würde denselben Faden spinnen. 10
Rückblick
O Mensch, du mußt das Dasein segnen.
Wie bald bist du ein Würmerfraß.
Was auch für Nummern dir begegnen —
Es macht doch Spaß.
Das Erdenleben bis zum Tode bleibt eine fesche Episode. 11
In beiden Gedichten wird aus der Rückschau trotz Niederlagen, Rückschlägen und Enttäuschungen das Leben bejaht. Bei Fontane ist jedoch dieser Optimismus persönlicher und zugleich tiefer und überzeugender ausgedrückt. Das Evokative seiner Verse erwächst aus ihrer Dialektik und Geformtheit. Fontanes Gedicht eignet sich wirklich als Zu-Spruch, dasjenige Kerrs tendiert zum Zynismus. Kerr kommt über die episodische, „nummern“-hafte, impressionistisch-agnostizistische, zudem von Sozialdarwinismus infizierte Lebensauffassung lange Zeit nicht hinaus. Das „trotz alledem“ seiner meisten spruchhaften Lebensbilanzen wirkt im Vergleich zu Fontane plakativ.
Dabei ist allerdings in Betracht zu ziehen, daß die Rückschau-Gedichte bei Kerr, offensichtlich im Bewußtsein des Endes der individualistischästhetischen Epoche, relativ früh einsetzen. Zugleich war aber von der liberalistischen Position aus die tiefere fontanische Art der spruchhaften Lebensbilanz offenkundig nicht mehr zu leisten. Erst in der Emigration wird Kerr auch zu objektiverer, sinnerfüllter Lebensbilanz in Versen gelangen, so im Gedicht „Sehnsucht“, das wohl nicht zufällig am Ende der „Melodien“ steht, der 1938 in Paris erschienenen Gedichtsammlung Kerrs, und in dem es heißt:
„Im Bewußtsein des Verrinnens Kämpfer sein und Melodie.“ 12