Seine Entwicklung als Lyriker krönte Kerr also in der Emigration als militanter Antifaschist. Als revolutionär-demokratischer Exillyriker wuchs er sowohl über Fontane wie über die individualistisch-ästhetische bürgerliche Epoche hinaus. Dabei spielt sicherlich eine Rolle, daß die Theaterkritik im bisherigen Umfange und mit der bisherigen Rigorosität nicht weiterführbar war. I2 a Aber die kämpferische satirische und hymnische Exillyrik Kerrs bedeutet nicht nur eine Verlagerung des Schaffens, sondern sie stellt in der Entwicklung des Schriftstellers eine neue Qualität des Lyrischen und der lyrischen Sprachkraft dar, die sich in den letzten Jahren der Weimarer Republik in inhaltlich und formal auch Erich Weinert verwandten volksverbundenen und volkstümlichen Gedichten wie „Wer hat die schönsten Schäfchen?“ und „Sie rüsten“ bereits ankündigte.
Im antifaschistischen Kampf prägt Kerr im wesentlichen drei lyrische Varianten aus: 1. das hymnische Porträtgedicht, die „Kernbelichtung“ von antifaschistischen Kämpfern in Versen als Weiterentwicklung und Überwindung des lyrischen Seelendarstellerporträts, 2. das satirische Porträtgedicht und 3. das große antifaschistische Abrechnungs- und Kampfgedicht, in dem sichpolitisches und Weltanschauungsgedicht, Empfindungsgedicht und sogar Balladeskes durchdringen.
Als antifaschistische Kämpfer werden im hymnischen Porträtgedicht Helmut von Gerlach, Max Herrmann-Neisse, Kurt Hiller und ganz besonders Egon Erwin Kisch und Emst Busch gefeiert. Die Verse auf „Ernst Busch in Paris“ sind dabei zweifellos die bedeutendste vershafte „Kernbelichtung“ eines kämpfenden Antifaschisten. Als Beispiel sei daraus die erste Doppel-Strophe angeführt:
Und die metro ging, und der Abend erschien,
Und es flammten die Lichter des Saals,
Und er stand und er sang wie einst in Berlin,
Und es war wie dunnemals.
Und er kündete Streit der Fron und dem Leid Des blutigen Jammertals,
Und er stand und sang das „Lied der Zeit“,
Und es war wie dunnemals. 13
Der inhaltlichen Neuheit: Feier eines populären kommunistischen Künstlers und Kämpfers entspricht die formale Neuerung: das balladeske Element in Ablauf und Rythmus, der Anklang an Bilder und gestischen lyrisch-epischen Tonfall des späten Heinrich Heine.
Als hymnisches Kollektivporträt ist das Gedicht „Die illegalen Kämpfer in Deutschland“ anzusehen, das nicht zufällig am Eingang der „Melodien“ steht und das in den Versen gipfelt:
„Sie sind die Heiligen und die Ritter Des Menschenreichs, das kommen wird.“ 1/1
Früher Heine der „Harzreisen“-Vision der „Ritter von dem Heil’gen Geist“ 15 ist hier geschichtlich weiterentwickelt, wobei die Perspektive freilich gewissen deklamatorisch-abstrakten Charakter behält.
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