Das aufgesanghafte Porträtgedicht wird durch das satirische ergänzt. Beispielhaft ist es in den Gedichten „Peregrin der öffentliche“ und „Der Polemist“ vertreten, die sich mit elementarem satirischem Zorn und unerhörter sprachlicher Wucht gegen die opportunistischen Tendenzen in der Haltung von Richard Strauß und Herbert Ihering gegenüber dem sog. 3. Reich wenden. In der Leidenschaftlichkeit des Hasses und in der Macht der Diktion sind diese lyrischen Pamphlete, die Geist mit hohei plastischer Bildkraft des Ausdruckes verbinden, mit dem Aufsatz Ger- hart Hauptmanns Schande“ vergleichbar, in dem Kerr seine tiefe Enttäuschung über die inkonsequente Haltung des Dichters explosiv entlud, für den er bis dahin immer mehr oder minder enthusiastisch eingetreten war.
Zu den Höhepunkten der „Melodien“ gehören die Abrechnungsgedichte, die sich mit der faschistischen Ideologie und mit der verhängnisvollen Nichteinmischungspolitik der westlichen Demokratien gegenüber Hitlerdeutschland auseinandersetzen. Exemplarisch für die Abrechnung mit dem faschistischen Antisemitismus sind Gedichte wie „Juden“, „Der Karren“ oder „Vulksgenossen san schepferiseh“ (im Unterschied zum angeblichen jüdischen „Imitiergemisch“ 1(i ). Das Gedicht „Der Karren“ endet mjt folgenden zornigen lakonischen Worten gegen die faschistische Deformierung und Entwertung von Geist und Sprache, gegen die Sprach-„Welt im Dreck“ 17 :
„In Deutschland haben üble Knoten
Des Wortes heilig-scharfe Kunst
Mit impotenten Pfuscherpfoten
Verhunzt. Verhunzt. Verhunzt. 18
Das antifaschistische Pathos dieser Verse ist an Gewalt des Hasses und in der Expressivität der Diktion kaum übertreffbar.
Die Auseinandersetzung mit der schwächlichen und schmählichen Nichteinmischungspolitik wird zum Beispiel in den Gedichten „Die wahrhaft Schuldigen“ und „Die ,Bremen 1 in New York“ geführt. Das zweite der genannten Gedichte steigt vom rühmenswerten Vorgang der Entfernung der Hakenkreuzfahne von Bord des deutschen Ozeanriesen durch antifaschistische Emigranten zu dem verzweifelten lyrischen Resümee und Urteil auf:
Darf man das rühmen? Um keinen Preis.
Der Mensch muß Takt besitzen — ich weiß.“ 19
Kerrs dichterische Achtung-Frankreich- bzw. Achtung-Europa-Rufe sind im Interesse der antifaschistischen Volksfront in Paris und Frankreich mitunter zweisprachig abgefaßt, d. h. es wechseln in entsprechender inhaltlicher Verzahnung deutsche und französische Verse.
Kurt Hiller schrieb in Vervollständigung seines Kerr-Porträts von 1927: „Man ist ungebildet, wenn man Lessing, Goethe, Schiller, Schopenhauer, Heine nicht kennt, man ist ungebildet, wenn man Kerr nicht kennt. Eines der schönsten Bücher im Exil waren die ,Melodien* von Kerr, ein stattlicher Band Gedichte..., in jeder keß-kristallenen, lebenslichten
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