Verszeile echter und dem Geiste näher als beispielshalber Rainer Maria Rilkes Gesamtwerk.“ 20
Mit den „Melodien“ hat Kerr Exilgedichte geschaffen, die neben denen Brechts, Joh. R. Bechers oder Erich Weinerts selbständigen Wert haben, die zum Beispiel kraftvoller, perspektivischer und origineller sind als die seines Freundes Max Herrmann aus Neisse. 21
Kerrs politisch-weltanschaulich lyrische Spätblüte, die an die politischlyrische Spätreife Georg Herweghs im Kampf gegen die Politik Bismarcks erinnert, die auch unter Heine-Rezeption zustandekam, ist in der Tat undenkbar ohne Anknüpfung an die politische und Weltanschauungslyrik des reifen und des späten Heine, dessen „Romanzero“ Kerr bereits 1923 mit einer bewegenden Vorrede versehen hatte. In einer Rede des Jahres 1926 würdigte er Heine gar als „singenden Genoß der Menge" und als Dichter der „ersten Lieder des dritten Jahrtausends“ 22 . Im antifaschistischen Kampf wird dieser Heine bei Kerr gehaltlich und gestalterisch zur ästhetischen Substanz. Auch der Titel „Melodien“ dürfte ein Anklang an den „Romanzero“ sein, an die Überschrift des dritten Teiles: „Hebräische Melodien“. Der „hebräische“ Aspekt, der in der Vorrede von 1923 eine nicht unerhebliche Rolle spielt, ist jetzt zugunsten breiter, volksfronthafter antifaschistischer Solidarität überwunden.
Der Lyriker Kerr entwickelt sich also unter dem Aspekt der Traditionswahl von Liliencron- und Fontane-Rezeption zur Aufnahme des reifen und späten Heinrich Heine. Aber auch an Kerrs später politisch-lyrischer Reife partizipiert Fontane, jetzt in Gestalt der erfüllten lyrischen Lebensbilanz und in Form des Balladesken. Ja, erst im Exil, „frei im Strom des Mittaglichts stehend, wie er selbstbewußt und stolz in dem großen Gesang ..Was ist Heimat?“ 2 * sagt, wurde Kerr als geschichtliche und schriftstellerische Erscheinung Fontane annähernd ebenbürtig.
Quellenangaben und Anmerkungen
1 Alfred Kerr: „Die Welt im Drama“, Berlin 1917, Band V, S. 439.
2 ebenda S. 430 und S. 439. Besonders schöne und ergreifende „Kernbelichtungen“ in Versen stellen die Gedichte auf Josef Kainz, die Düse (als Ella Bentheim) in Henrik Ibsens „John Gabriel Borkmann“ und auf Joseph Eichendorff dar. Vgl. Alfred Kerr: „Die Harfe“, Berlin 1921, S. 34, 39, 44.
3 Fontane schreibt 1883 über Arthur Vollmer: „...Ein wirklicher Schauspieler, ein wirklicher Künstler . .. weit über den bloßen Komiker hinaus ist er ein Charakteristiken In jeder Bolle ... ist er ein anderer. Er schafft beständig neue Gestalten und läßt seine Persönlichkeit, wenn die zu schaffende Gestalt es erheischt, in seinen Gebilden untergehen.“ (Th. Fontane: „Causerien über Theater“, Nymphenburg 1964. II. Teil, S. 194). Über Pagay schreibt Fontane anläßlich der Aufführung der „Wildente“ im Oktober 1888: „Ganz ersten Banges, vielleicht
. nur, weil Person und Rolle sich aufs glücklichste deckten, erschienen mir der alte Leutnant Ekdahl des Herrn Pagay und die Glna Ekdahl des Fräulein Marie Kronau; das Spiel war wahrstes Leben.“ (Th. Fontane: „Causerien über
Theater“, Nymphenburg 1964, II. Teil, S. 697).
4 Alfred Kerr: „Melodien“, Paris 1938, S. 148.
5 Alfred Kerr: „Die Harfe“, Berlin 1921, S. 32.
6 Alfred Kerr: „Trotz alledem - es hat gelohnt. Verse und Lieder“, Henschel- verlag Berlin 1970, S. 44.
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