in der Topografie des unermeßlichen London Arm und Reich, völlig voneinander getrennt, in verschiedenen Stadtquartieren leben, was damals weder in Paris noch in Berlin der Fall sein konnte. Kurz, Paris scheint nicht mehr als „ein vergrößertes Berlin“ zu sein, während London „eine Riesenstadt“ sei, 8 ein einzigartiges, übermenschliches Gebilde. Indessen, wie so häufig, so widerspricht sich Fontane auch hier und überläßt es seinem Leser, den richtigen Schluß zu ziehen. In einer Nachschrift zum zitierten Brief an den Vater nuanziert er nämlich sein Urteil und beschreibt das Paris der großen Boulevards als „Lichtermeer“ mit einer „dichtgedrängten Menschenmasse“, welches alltägliche Schauspiel in Berlin nur einmal jährlich zu sehen sei, „wenn Königs Geburtstag ist“.
In diesen anscheinend banalen Briefstellen aus Paris findet man bereits die ersten Rudimente zur Analyse der Entstehung einer Weltstadt, wie sie Fontane später in seinen Berliner Romanen entwickeln sollte.
Die nur acht Tage dauernde Besichtigung von Paris, vierzehn Jahre vor dem deutsch-französischen Kriege, ist für Fontane gewissermaßen eine Einführung zur Kenntnis des Nachbarvolkes. Diese Kenntnis wird sich 1870—76 durch zahllose Begegnungen und Gespräche im Laufe von bald komischen, bald gefährlichen, bald ergreifenden Episoden wesentlich erweitern. Einerseits war der Kriegszustand zwischen Deutschen und Franzosen weit entfernt davon, zwischen Fontane und seinen Gesprächspartnern Schranken zu errichten; ganz im Gegenteil scheinen der Gedankenaustausch, die Lebhaftigkeit der Unterhaltungen und ihre menschliche Tragweite dadurch geradezu begünstigt worden zu sein. Andererseits hat die Konfliktsituation, worin sich Fontane notwendigerweise befand, ihn dahin gebracht, seine Aufmerksamkeit auf die grundlegenden sozialpsychologischen Unterschiede zu lenken, der er zwischen beiden Nationen herausfand. Nach den ersten drei Wochen der Kriegsgefangenschaft, nach persönlichen Kontakten mit Hunderten von französischen Zivilisten und Militärs glaubt er im Stande zu sein, die Vorzüge und Fehler des französischen Nationalcharakters aufzählen zu können. 9 Sein Urteil läßt sich folgendermaßen zusammenfassen: Als einzelne Menschen sind die Franzosen liebenswert, zuvorkommend, keineswegs nachtragend, ihrer Bildung nach mindestens auf derselben Höhe stehend wie die Deutschen; gewiß sind sie von einem lebhaften Vaterlandsgefühl bewegt, aber deshalb doch nicht deutschfeindlich gesinnt, allenfalls ein wenig prahlerisch veranlagt.
Aber diese günstige Charakterisierung stellt nur eine Seite der Medaille dar. Auf der anderen Seite erscheint das Bild der französischen Kollektivität, die durch Hang zur Unruhe, zur Irreligiosität und zur Respektlosigkeit gegenüber dem Staat und den Gesetzen gekennzeichnet wird. Kurz, Fontane meint, das allgemein verbreitete Mißtrauen gegenüber den Behörden, ganz gleich, ob es sich um die kirchliche, militärische oder Zivilverwaltung handle, sei ein unfehlbares Zeichen des Niedergangs eines ganzen Volkes. Seiner Ansicht nach gleicht selbst die Vaterlandsliebe, wenn sie sich nicht auf eine anerkannte Ordnung stützt, „einer schillernden Seifenblase“. 10