Ein kleiner Zwischenfall aus dem immerwährenden Kampf zwischen Ordnung und Freiheit spielt sich vor seinen Augen ab. Es handelt sich um einen Autoritätskonflikt zwischen einem französischen Soldaten und seinem Vorgesetzten. Fontane drückt sein Erstaunen aus über die Dreistigkeit des Untergebenen, der sich in seinem Recht wähnt. Dieser antwortet ihm schlagfertig: „Ja, ja, ich verstehe: Bei Euch herrscht noch der Stock. Bei uns in Frankreich herrscht mehr Freiheit “. 11 Dieser Sinn für Freiheit, dessen sich so viele Franzosen rühmen, die Fontane in Kasernen, Eisenbahnzügen, Bahnhöfen kennengelernt hat, erscheint ihm absurd: „Zu den vielen Unglaublichkeiten des französischen Nationalcharakters gehört auch die, alles für despotisiert, sich selbst aber für frei zu halten “. 12 Fontane äußert sich hier als typischer Preuße. Wie man weiß, hat Hegel, den man in diesem Zusammenhang wohl als preußischen Staatsphilosophen ansehen darf, behauptet, der Einzelne sei nichts, der Staat sei alles. Außerdem spricht Fontane als Schriftsteller und Amateurhistoriker. Die beiden wichtigsten kritischen Bemerkungen gegenüber den Franzosen betreffen ihren angeblich anarchistischen Freiheitsdrang und ihre Gleichgültigkeit gegenüber der eigenen geschichtlichen Vergangenheit, überall in Frankreich, so glaubt Fontane es feststellen zu können, ist Eigennutz jedem das höchste Prinzip; nirgends unterwirft sich der Einzelne freiwillig dem öffentlichen Wohl. Dieses öffentliche Wohl verkörpert sich, nach Fontanes Ansicht, im Staate und gründet sich auf die nationale Überlieferung, die aus der Geschichte hervorgeht. Er zitiert zahlreiche Beispiele für die Mißachtung gegenüber der Vergangenheit der Nation, für den Mangel an historischem Sinn; die Zerstörung der Vendöme-Säule erscheint ihm hierfür als ein besonders erschreckender Beweis . 13 Andere, in Fontanes Augen typische Beispiele seien hier erwähnt: die verwahrlosten Königsgräber in der Basilika von Saint Denis, die Vergessenheit, in die der „gute König“ Heinrich IV. geraten ist, das seien Indizien für ein Absterben des Nationalstolzes, für einen Bruch mit der Tradition, für einen unaufhaltsamen Verfall. Fontane als Ästhet, als Liebhaber alter Baudenkmäler und historischer Reminiszenzen beurteilt die französische Nation nach den äußeren Anzeichen ihrer Niederlage. Schon zu Anfang seiner „Wanderungen“ durch Frankreich schreibt er seiner Frau: „Wo immer man in Deutschland reist, hat man den Eindruck des Fortschritts, der ascendance, hier überall den des Rückschritts, des Verfalls. Man hat sich um die Welt draußen nicht bekümmert und ist von dieser total überholt worden. Selbst Österreich, soweit ich es kenne, macht nicht so sehr den Eindruck der Stagnation, wie dieses moderne Frankreich. Man empfindet deutlich, daß sie unterliegen mußten “. 14 Diese Beobachtungen sind allerdings recht, oberflächlich.
Wo glaubt nun Fontane die tieferen Ursachen des Niedergangs zu finden? Er entgeht der allzu leichten Versuchung, alle Schuld dem Regime des Zweiten Kaiserreichs in die Schuhe zu schieben. Unter der Regierung Napoleons III. hatte Frankreich eine Periode wirtschaftlicher Hochkonjunktur erlebt, und schließlich wird Fontane, ganz im Gegensatz zu seinen ersten Eindrücken in Toul, ein reiches Frankreich entdecken, das im
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