Die Publizisten des französischen Bürgertums standen 1871 vor folgender Alternative: Soll man die Niederlage einzig und allein durch die militärische Übermacht Deutschlands erklären oder aber durch eine grundsätzliche, sozusagen geistige Überlegenheit, die infolge des Krieges erst offenbar geworden sei? „Moralisten“ wie Graf Gobineau und andere stellten der frivolen, oberflächlichen französischen Mentalität die Tiefe und Tugendhaftigkeit des deutschen Geistes gegenüber. Katholische Pam- phletisten wie Veuillot sahen im Siege des protestantischen Preußen über das katholische Frankreich eine Folgeerscheinung der Vernachlässigung religiöser Traditionen. Weniger oberflächliche Argumente finden sich bei Autoren hohen Ranges, so besonders bei Renan und bei Taine. Bei ihnen finden sich Gedankengänge, die Fontanes damaliger Denkweise nahestanden.
Renan 28 meint, Preußens Sieg sei anzusehen als der Erfolg eines Königtums, das sich vor der Geschichte bewährt habe. Die französische Nation hingegen könne sich wieder erheben, wenn sie ihrerseits die monarchistische Staatsform annehmen würde. Es scheint so, als ob Hegels Stellungnahmen zum preußischen Staat auf den französischen Denker einen gewissen Einfluß ausgeübt haben. Nodi bestimmter als Renan wird sich Taine, allerdings einige Jahre später, zu Frankreichs Niedergang äußern. 29 Seiner Ansicht nach könne die Überlegenheit sowohl des militärischen als auch des politischen Systems der Siegermacht gar nicht bestritten werden. Der Krieg von 1870—71 sei in der Geschichte Frankreichs der Endpunkt einer verderblichen Entwicklung, die mit der großen Revolution von 1789 begonnen hätte. Die Ursachen dieses Abstiegs werden so erklärt, daß die französische Geschichte im neunzehnten Jahrhundert als Gegenstück zur deutschen Geschichte erscheint, wie sie von den preußischen Publizisten der Bismarckzeit dargestellt wird, zum Beispiel bei Freytag oder bei Treitschke, die den Sieg von 1871 als den Höhepunkt eines langen Aufstiegs der deutschen Nation zur Größe und Einheit darstellen. Parallel dazu sieht Taine in der Niederlage Frankreichs die letzte Konsequenz eines Verfalls der französischen Nation, der 1789 durch den Bruch mit der historischen Kontinuität ihren Anfang genommen hatte, worauf aber nun ein Wiederaufstieg folgen müßte.
Wie man sieht, steht Fontane mit seiner Analyse Frankreichs im Jahre 1871 den französischen Denkern näher als den offiziellen preußischen Historikern, sei es auch nur durch seine Bemühungen um Objektivität. Übrigens ist ihm in preußischen Kreisen vorgeworfen worden, er habe in seinem Buch Kriegsgefangen eine „unpatriotische Milde“ in der Beurteilung des „Erbfeindes“ gezeigt. 30
Wo steht nun Fontane in der Skala der deutschen Meinungsäußerungen gegenüber Frankreich? Man kann sagen, sein Standpunkt ist gleich weit entfernt von den Äußerungen der Vertreter des offiziellen Deutschland (Nationalliberale wie Freytag und Treitschke) und den Stellungnahmen der deutschen Linksopposition, in der seit Sedan radikale bürgerliche Intellektuelle (wie Johann Jacoby und Guido Weiß von der Berliner Tageszeitung Die Zukunft) und Sozialdemokraten beider Richtungen
458