Heft 
(1979) 30
Seite
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Die Publizisten des französischen Bürgertums standen 1871 vor folgender Alternative: Soll man die Niederlage einzig und allein durch die mili­tärische Übermacht Deutschlands erklären oder aber durch eine grund­sätzliche, sozusagen geistige Überlegenheit, die infolge des Krieges erst offenbar geworden sei?Moralisten wie Graf Gobineau und andere stellten der frivolen, oberflächlichen französischen Mentalität die Tiefe und Tugendhaftigkeit des deutschen Geistes gegenüber. Katholische Pam- phletisten wie Veuillot sahen im Siege des protestantischen Preußen über das katholische Frankreich eine Folgeerscheinung der Vernachlässigung religiöser Traditionen. Weniger oberflächliche Argumente finden sich bei Autoren hohen Ranges, so besonders bei Renan und bei Taine. Bei ihnen finden sich Gedankengänge, die Fontanes damaliger Denkweise nahe­standen.

Renan 28 meint, Preußens Sieg sei anzusehen als der Erfolg eines König­tums, das sich vor der Geschichte bewährt habe. Die französische Nation hingegen könne sich wieder erheben, wenn sie ihrerseits die monar­chistische Staatsform annehmen würde. Es scheint so, als ob Hegels Stellungnahmen zum preußischen Staat auf den französischen Denker einen gewissen Einfluß ausgeübt haben. Nodi bestimmter als Renan wird sich Taine, allerdings einige Jahre später, zu Frankreichs Niedergang äußern. 29 Seiner Ansicht nach könne die Überlegenheit sowohl des mili­tärischen als auch des politischen Systems der Siegermacht gar nicht be­stritten werden. Der Krieg von 187071 sei in der Geschichte Frankreichs der Endpunkt einer verderblichen Entwicklung, die mit der großen Revo­lution von 1789 begonnen hätte. Die Ursachen dieses Abstiegs werden so erklärt, daß die französische Geschichte im neunzehnten Jahrhundert als Gegenstück zur deutschen Geschichte erscheint, wie sie von den preußischen Publizisten der Bismarckzeit dargestellt wird, zum Beispiel bei Freytag oder bei Treitschke, die den Sieg von 1871 als den Höhepunkt eines langen Aufstiegs der deutschen Nation zur Größe und Einheit dar­stellen. Parallel dazu sieht Taine in der Niederlage Frankreichs die letzte Konsequenz eines Verfalls der französischen Nation, der 1789 durch den Bruch mit der historischen Kontinuität ihren Anfang genommen hatte, worauf aber nun ein Wiederaufstieg folgen müßte.

Wie man sieht, steht Fontane mit seiner Analyse Frankreichs im Jahre 1871 den französischen Denkern näher als den offiziellen preußischen Historikern, sei es auch nur durch seine Bemühungen um Objektivität. Übrigens ist ihm in preußischen Kreisen vorgeworfen worden, er habe in seinem Buch Kriegsgefangen eineunpatriotische Milde in der Beurtei­lung desErbfeindes gezeigt. 30

Wo steht nun Fontane in der Skala der deutschen Meinungsäußerungen gegenüber Frankreich? Man kann sagen, sein Standpunkt ist gleich weit entfernt von den Äußerungen der Vertreter des offiziellen Deutschland (Nationalliberale wie Freytag und Treitschke) und den Stellungnahmen der deutschen Linksopposition, in der seit Sedan radikale bürgerliche Intellektuelle (wie Johann Jacoby und Guido Weiß von der Berliner Tageszeitung Die Zukunft) und Sozialdemokraten beider Richtungen

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