Heft 
(1979) 30
Seite
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ähnliche Integrierung revolutionärer Phänomene findet, gleichfalls mit Verspätung, bei Fontane (Der Stechlin, 1898) und bei Thomas Mann (Der Zauberberg, 1924) statt. Es kann bei den drei Dichtern festgestellt werden, daß die revolutionäre Dynamik, soweit sie als Bedrohung mit­erlebt wird, in den unmittelbar niedergeschriebenen Schriften negativ beurteilt wird. Doch fügt sich allmählich diese Dynamik als bestimmendes Element ein in das literarische Werk von hohem Rang, worin die politisch­soziale Welt in ihrer Totalität erscheint.

Es sei also klargestellt, daß bei Fontane die in den Schriften von 187071 so zahlreichen Aussprüche über den Bürgerkrieg in Frankreich Reaktionen eines Zeugen sind, der angsterfüllt im Sturmwind eines Aufstandes steht, den er in seinem Inneren verwirft. Vom 29. Oktober bis 1. November 1870 befindet sich der Kriegsgefangene Fontane, auf dem Wege nach der Insel Oleron, in Lyon, wo er in der Zitadelle interniert wird. Dieser kurze Aufenthalt steht unter dem Zeichen der Angst. Nach dem Aufstand, der zur Errichtung der kurzlebigen Lyoner Commune (unter der Führung Bakunins) geführt hatte, war in dieser Stadt die öffentliche Ordnung noch nicht wiederhergestellt. Als aufmerksamer Leser der Lokalpresse glaubte Fontane zu verstehen, daß die Macht sozusagen auf der Straße lag, und er fragte sich bang:Was nun, wenn diese Septembriseurs in die Gefängnisse einbrechen? 33 Die Parallele zwischen 1870 und den Septembermorden des Jahres 1792 war leicht zu ziehen. Waren nicht zu jenem Zeitpunkt die politischen Gefangenen in Paris von der erregten Menge niedergemetzelt worden, gerade weil eine preußische Armee sich im Anmarsch befand, genau wie es im November 1871 vor Lyon hätte geschehen können?

Nun zum anderen typischen Zwischenfall: Am 13. April 1871, während seiner Osterreise durch Frankreich, fährt Fontane von Reims nach dem Pariser Vorort Saint Denis. Unterwegs steigt er falsch um, nämlich nach Paris selbst, einem Bestimmungsort, den er um jeden Preis vermeiden wollte, um nichtin die Commune hineinzufahren. M Sofort steigt in seinem Gedächtnis die Erinnerung an seine Gefangennahme durch lothrin­gische Franktireurs (5. Oktober 1870) und an die darauf folgende Kriegs­gerichtsverhandlung wieder auf. In seiner angsterfüllten Phantasie sieht sich Fontane bereits als Häftling der Pariser Commune, wie er einen der Führer der aufständischen Gewalt um Gnade bittet. Er denkt dabei an Alphonse Assi, Chef des Zentralkomitees der Nationalgarden, den die Deutschen damals irrtümlicherweise für einen Landsmann hielten. Doch sollte der Alptraum bald enden; Fontane bringt es fertig, noch kurz vor Paris in eine andere Richtung umzusteigen.

Ist er einer wirklichen oder imaginären Gefahr entronnen? Darauf kommt es nicht an. DerPöbel, ein Ausdruck, den Fontane mehrmals gebraucht, ist, so glaubt er, immer schreckenerregend und stets bereit, Wehrlose zu massakrieren. Die Ausdrücke, mit denen Fontane die unruhigen Arbeitermassen der Großstädte (Bordeaux, Toulouse, Lyon), durch die er Ende 1870 fährt, bezeichnet, erinnern an die Revolution von 1789, deren Bild in seinem Gedächtnis während der ganzen Zeit, da er sich auf

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