Heft 
(1979) 30
Seite
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Ihm zur Seite steht ein Pastor, dessen traditionelle Rolle eigentlich darin bestanden hätte, diedurch Gott gegebenen Ordnungen 58 aufrecht zu erhalten; doch zeigt dieser Kirchenmann deutliche Sympathien für Sozia­lismus und Demokratie.Er gehört ja zur Richtung Göhre, heißt es von ihm. 57 Fontane unterstreicht im Stechlin die wirtschaftlichen und sozialen Ursachen der moralischen und politischen Veränderungen jener Zeit kurz vor der Jahrhundertwende. Das einst agrarische Preußen ist ein Industrie­staat, ein Land der Großstädte geworden. Das Heraufziehen des Massen­zeitalters wird fühlbar bis in die entlegensten Dörfer der Mark Branden­burg. Der Gutsbezirk des Feudalherrn grenzt an einen Industriekomplex (Chemie und Glasfabrikation). Berlin, seit zwei Jahrhunderten königliche Residenz und Garnison der Eliteregimenter, ist zu einer Millionenstadt, zu einem riesenhaften Produktionszentrum geworden. Dieser wirtschaft­liche Aufschwung hat eine doppelte Folgeerscheinung gezeitigt: einerseits die unerhörte Konzentration von Reichtümern, bezeugt durch die Ent­stehung vornehmer Wohnviertel, 58 und andererseits die erschreckende Anhäufung von Elend, bezeugt durch die Barackenviertel und den Bau zahlreicher Mietskasernen. Die paradoxen Wirkungen des Aufstiegs zur Weltstadt sind weder an Berlin, noch an Paris und London spurlos vor­übergegangen. Der wachsende Wohlstand des Finanz- und Industrie­bürgertums hatte als Pendant den Zustrom der proletarischen Massen: Arbeiter, Arbeitsuchende, Arbeitslose. Zu Anfang dieser Studie wurde darauf hingewiesen, daß Fontane bereits im Jahre 1856, bei seinem Städte­vergleich zwischen Paris und London, dieses Neben- und Gegeneinander von Arm und Reich beschrieben hatte. Die soziale Segregation (Luxus­viertel und Armenviertel), die in London seit Mitte des neunzehnten Jahrhunderts vollendete Tatsache ist, setzt sich während des Zweiten Kaiserreichs nach und nach in Paris durch und zeigt sich auch in Berlin seit der Reichsgründung immer deutlicher. Das alte Reimwort der fran­zösischen Bourgeoisieclasses laborieuses, classes dangereuses 59 traf damals schon, in verschiedenem Maße allerdings, auf die Lage jeder der drei Hauptstädte zu.

In London, der Hauptstadt einer Nation, die, nach Fontanes Meinung, 69 es verstanden hat, Tradition und Fortschritt miteinander zu vereinbaren, konnte eine revolutionäre Explosion vermieden werden. Paris jedoch war 1871 Schauplatz eines blutigen Aufstandes. Dagegen hatte Berlin bislang nur einige schnell unterdrückte Unruhen erlebt (zum Beispiel den Blumenstraßenkrawall 1872); doch schwerwiegende Ereignisse können jederzeit eintreten. Neben Berlin kommen auch Paris und London im Stechlin vor. Doch werden in der Thematik des Romans jeder dieser beiden Weltstädte sehr verschiedene Funktionen zugeteilt. London wird als die Hochburg der vornehmen Gesellschaft geschildert, in jenem Insel­reich, dasmehr als ein irgend ein anderes Land... ein Produkt der Zivilisation ist, und zwarso sehr, daß die Neigungen der Menschen kaum noch dem Gesetze der Natur folgen, sondern nur noch dem einer verfeinerten Sitte. 61 Dagegen ist Paris in den Unterhaltungsszenen des Romans gegenwärtig durch die Darstellung nicht der großen Welt, sondern

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