del- Unterwelt, sowohl bildlich als wörtlich genommen: Die Kloaken werden beschrieben, „hochgewölbte Kanäle, die sich unter der Erde hinziehen. Und diese Kanäle sind das wahre Ratteneldorado; da sind sie zu Millionen. Oben drei Millionen Franzosen, unten drei Millionen Ratten“. 02 So wird Paris herauf beschworen, mit seinen Kloaken und Ratten, und das mitten im Tischgespräch auf Schloß Stechlin, bei einem erlesenen Souper, wo man Burgunderwein und gebratene Krammetsvögel serviert.
Handelt es sich bei diesem merkwürdigen Gesprächsstoff einzig und allein um Reiseerinnerungen eines Touristen, der die heute noch als Sehenswürdigkeit angepriesene Kahnfahrt durch das Pariser Kanalisationsnetz mitgemacht hat? 03 Keineswegs! Bereits Eugene Sue, in Les Mysteres de Paris (1843), und Victor Hugo, in Les Miserables (1862) haben die Kloaken dargestellt als Unterschlupf für polizeilich Gesuchte, obwohl verfolgte Revolutionäre (zum Beispiel Jean Paul Marat) als auch Mitglieder der Verbrecherwelt. Schon Goethe, als er vom vorrevolutionären Paris und der berüchtigten Halsbandaffäre sprach, gedachte der allegorischen Bedeutung jeder unterirdischen Kanäle: „Unsere moralische und politische Welt ist mit unterirdischen Gängen, Kellern und Kloaken miniret, wie eine große Stadt zu sagen pflegt.“ M
Das Kloaken-System von Paris, in seinem unterirdischen Dunkel, entspricht genau dem Straßennetz, daß sich in vollem Lichte über die Stadt erstreckt. Der sichtbaren sozialen Welt entspricht also in den Tiefen eine verborgene Welt, die bei Goethe und später bei Eugene Sue (dessen Mysteres de Paris Fontane genau kannte) als Unterwelt, als Gegen-Gesell- schaft, als Welt der „gefährlichen Klassen“ gekennzeichnet wird. Fontane erweitert diese soziale Allegorie. Im Stechlin wird erzählt daß in den Pariser Kloaken Millionen von Ratten leben. Die Ratten haben gleichfalls eine allegorische Bedeutung.® Zur Zeit der Ausnahmegesetzgebung (1878 bis 1890), deren Bestimmung es war, die deutsche Arbeiterbewegung zu vernichten, nannte Bismarck die Sozialdemokraten „die Ratten im Lande“.'** Die Bedeutung des Tischgesprächs im dritten Kapitel des Stechlin ist klar: Die „gefährlichen Klassen“ bevölkern den Untergrund des gesellschaftlichen Baus, dessen Fundamente sie untergraben. In Paris, dem Herde zahlreicher Revolutionen, hat sich der Aufstand, der die Zerstörung dieses Baus nach sich ziehen sollte, 1871 ereignet. Allegorisch ausgedrückt: Damals traten die Ratten plötzlich massenweise aus dem Dunkel ans Licht. Das Gespräch über die Ratten im Stechlin ist Fontanes letzte Anspielung auf die Commune. Sie steht im inneren Zusammenhang mit den anderen revolutionären Themen des Romans, so zum Beispiel die Episode des Sees, aus dem ein roter Hahn aufsteigt, „wenn's draußen was Großes gibt“, 67 oder die Erwähnung des gefährlichen Tuns der Arbeiter in den chemischen Fabriken, denn dort wird „alles angebrannt und angeätzt. Das ist das Zeichen unserer Zeit jetzt“ j 88 und was ergibt sich daraus? Fontane läßt den alten Stechlin antworten: „Die große Generalweltanbrennuna“. das heißt: die soziale Revolution.