In der Auffassung von der Rolle der Arbeiterklasse bestehen zwischen den besprochenen Autoren grundsätzliche, übrigens auch zeitbedingte Unterschiede. Die Überzeugung, zu der Fontane erst am Ende seines Lebens gelangt, daß der „vierte Stand“ die Klasse der Zukunft sei, ist für Bredel, für den der Arbeiter den eigentlichen Helden der Epoche darstellt, Selbstverständlichkeit und Ausgangspunkt von Anfang an. Trotzdem ist es interessant, das Verhältnis dieser beiden Schriftsteller zum Aufstieg der Arbeiterklasse und zum Problem des Verfalls der Aristokratie zu verfolgen, das ja zu Bredels Lebzeiten nicht mehr so relevant war wie am Ausgang des 19. Jahrhunderts in Deutschland.
Fontane erhoffte in seinen letzten Lebensjahren eine Erneuerung und Besserung der Gesellschaftsordnung durch den „vierten Stand“. Diesen Gesichtspunkt drückt er sowohl in seinen Briefen (u. a. vom 6. Mai 1895 an Friedlaender, vom 22. August 1895 an seine Tochter, vom 22. Februar 1896 an James Morris, vom 29. März 1898 an Friedrich Stephany) als auch in seinen Werken aus (z. B. in „Irrungen, Wirrungen“ in Form eines besonderen Interesses an Gestalten aus dem „vierten Stand“, die als positive Helden auf treten). 24
Bredels gesamtes Schaffen galt dem Leben und dem Kampf seiner Klasse — der Arbeiterklasse. Für ihn war die Darstellung des revolutionär handelnden Arbeiters die Hauptaufgabe der sozialistischen Literatur und seiner persönlichen literarischen Tätigkeit. Das betriift genauso seinen ersten, noch recht unreifen Roman „Maschinenfabrik N & K“, wie sein Hauptwerk — die Trilogie „Verwandte und Bekannte“, als auch sein letztes Werk „Ein neues Kapitel“. „Die im Frühwerk von Bredel begonnene Darstellung des revolutionären deutschen Arbeiters sowie die vielfältigen Vorstöße zur Vervollkommnung dieses Menschenbildes in der Periode des Exils finden in der weiträumigen, mehrere Perioden der Geschichte umfassenden Trilogie ,Verwandte und Bekannte“ ihre folgerichtige Fortsetzung und ihren künstlerischen Höhepunkt. Diese kontinuierliche und differenzierte Widerspiegelung des Lebens und des Kampfes der deutschen Arbeiterklasse kennzeichnet den bedeutenden Beitrag Willi Bredels zur Erschließung der geschichtlich fortschrittlichsten Klasse für die sozialistische Epik und gibt seinem Werk einen zentralen Platz in der sozialistischen Nationalliteratur.“ 25
Die Akzente bei der Gestaltung des Verfalls der Aristokratie liegen bei beiden Schriftstellern verschieden: bei Fontane zentral, bei Bredel am Rande seines Gesamtwerkes, obwohl der letztere diesem Problem doch recht viel Zeit und Aufmerksamkeit widmete.
In seinem Haß gegen die Bourgeoisie hegte Fontane — gewissermaßen als Gegenpol — eine Art Sympathie für den Adel, obwohl er sich dessen bewußt war, daß dieser unausweichlich dem Untergang geweiht war. 21 ’ Das spiegeln viele seiner Werke wider, besonders die Romane: „Vor dem Sturm“, „Irrungen, Wirrungen“, „Effi Briest“ und „Die Poggenpuhls“. Über „Effi Briest“ meint P. Rilla zutreffend, dieses Werk sei „die männlichste Abrechnung mit jener preußischen Ordnungswelt, deren Helden-
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