Heft 
(1979) 30
Seite
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in der Grafschaft Ruppin gelegen, besitzt dieser See eine ganz besondere Eigenschaft. Immer wenn auf der Erde eine Erschütterung oder Bewegung stattfindet zum Beispiel das Erdbeben von Lissabon oder ein Vulkan­ausbruch in Island oder Java, verändert sich der gewöhnlich ruhige und durchsichtige Wasserspiegel; es bilden sich Wellen, Strudel und manchmal erhebt sich sogar aus den unendlichen Tiefen des Sees, so erzählt es die Legende, ein roter Hahn, der mit schrillem und zornigem Krähen die ganze Gegend aufschreckt.

Die Romanhandlung läuft in der eigenen Gegenwart des Autors ab und umfaßt weitere und unterschiedlichere Gebiete als die des traditionellen Gesellschaftsromans, der, obwohl er gleichfalls die Analyse und Kritik der zeitgenössischen sozialen Wirklichkeit beabsichtigt, sich auf bestimmte Helden und ihre private Geschichte konzentriert. Hier haben wir einen echten Zeitroman vor uns, in dem sich alle oder fast alle Merkmale ver­einigt finden, die Peter Hasubek als bestimmend für diesen besonderen Erzähltyp herausstellt 11 .

Das höchste Ziel für den Zeitroman ist die Darstellung des vielschichtigen Spiels überindividueller und kollektiver Kräfte, die die gegenwärtige Wirklichkeit, die Epoche bilden. Für die Verwirklichung eines solchen Zieles ist die Handlung auf ein Mindestmaß beschränkt. Abgelehnt wird die lineare, fortschreitende Erzählweise, die in einer dramatischen Ent­wicklung auf eine Klimax hinführende, sorgfältig und systematisch angelegte Diegese, wie sie in dem von Bourget verteidigten Roman üblich war, den im übrigen auch Fontane selbst pflegte (siehe z. B. Effi Briest). Fontane war sich des neuen Erzähltyps, dem er sich im Stechlin zuwendet, vollkommen bewußt, wie ein 1897 an A. Hoffmann gerichteter Brief zeigt, in dem er selbst auf die spärliche und jeder Dramatik entkleidete Hand­lung seines Zeitromans hinweist 1 '-.

Obwohl am Rande auch Figuren auftauchen, die dem Klerus, dem Bürger­tum oder dem ländlichen und städtischen Proletariat angehören, konzen­triert sich der Roman hauptsächlich auf die Aristokratie und zeigt uns zwei geographisch deutlich voneinander abgegrenzte Typen auf: den patriarchalischen, provinziellen Landadel, repräsentiert vom Kreis um den Majoratsherrn Stechlin, und den weltoffenen, liberalen Stadtadel, dessen typischer Vertreter die Familie Barby ist.

Auf den ersten Blick mag es merkwürdig erscheinen, daß ein kritischer und aufgeklärter Geist wie Fontane, der beispielsweise in den Briefen an Georg Friedlaender (die seit 1884 seine Erzählproduktionen begleiten) so oft die rückschrittliche Mentalität und die rückschrittlichen Ansichten der alten, dekadenten preußischen Aristokratie verurteilte, jetzt in einem Roman, in dem er eine Gesellschaft in der Krise, in tiefgreifender Ver­änderung und auf der Suche nach neuen Lebensformen zeigen will, seine Aufmerksamkeit fast ausschließlich diesem Adel schenkt. Wir dürfen indessen nicht die von Fontane immer wieder von neuem versicherte ästhetische Vorliebe für die Aristokratie vergessen und darüber hinaus nicht die Tatsache, daß die Aristokratie in diesem bestimmten historischen Augenblick tatsächlich die Klasse war, die sich am besten dazu eignete,

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