das notwendigste, das andere verteilte er unter die Armen... ,E um Santo“, (er ist ein Heiliger) hörte ich vor Jahren, als ich selbst in Lissabon lebte, oft sagen, ohne damals als Fremde die ganze Größe dieses schlichten Mannes zu fassen. Heute freilich wiederhole ich ,e um Santo“, ich weiß, daß Volkes Stimme Gottes Stimme ist. Nun ist er tot... Arm ist er gestorben, wie er gelebt hat, und eine Begräbnisfeier ist ihm zuteil geworden, die nicht nur den Dichter, sondern auch das Volk ehrte, das er durch sein Leben und Schaffen so hochgeehrt hat. An dem Tage der Beisetzung, die in dem Hieronymustempel stattfand ... waren alle Schulen des Landes, alle Fabriken und Läden Lissabons geschlossen. Der Minister, der Staatsmann, der Gelehrte, der Handwerker und der Arbeiter gingen schmerzerfüllt hinter dem Sarg her. Schluchzend suchte die arme Fabrikarbeiterin ihrem Kinde zu erklären, daß es dem Toten alles zu verdanken habe.“ (H. Wigger, a. a. O., Sp. 297).
Im Romanzusammenhang ist die Geschichte von Joao de Deus, wie Wolde- mar ausdrücklich zu Melusine sagt, eine Darstellungsform von Lorenzen selbst und seinen sozialistischen und christlichen Idealen: „ ... in dieser Geschichte haben Sie nicht bloß den Joao de Deus, sondern auch meinen Freund Lorenzen. Er ist vielleicht nicht ganz wie sein Ideal. Aber Liebe gibt Ebenbürtigkeit.“ 21 Unter dem gemeinsamen Zeichen von Joao de Deus und Lorenzen, unter dem Zeichen der Liebe, reichen sich Woldemar, Armgard, Melusine und eine Freundin der beiden Schwestern die Hände — „selbstverständlich über Kreuz“ 22 , um so etwas wie einen geheimen Bund zu besiegeln.
Die Geschichte von Joao de Deus und der Bund, den sie zwischen diesen vier Aristokraten bewirkt, befinden sich, unter dem Gesichtspunkt der Romanstruktur, am Ende des ersten großen Handlungsbogens, der starken Expositionscharakter zeigt, d. h. die verschiedene Personen und Personenkreise vorstellt. Diese erste Phase der Erzählung unterteilt sich in drei Bücher: „Schloß Stechlin“, „Kloster Wutz“ und „Nach dem ,Eierhäuschen“ “ 23 . In den ersten beiden werden, wie schon der Name selbst sagt, zwei verschiedene Lebensformen der Provinzaristokratie vorgestellt; das dritte Buch ist dem Berliner Milieu gewidmet und schließt, unseres Erachtens auf sehr bezeichnende Weise, mit der Darstellung — anhand des Motivs vom portugiesischen „Heiligen“ 24 — der Gedanken von Pastor Lorenzen, einer Schlüsselfigur der Romanwelt. Gleichzeitig kündigt der Bund, den Woldemar und seine Berliner Freundinnen unter dem Eindruck der Geschichte von Joao de Deus schließen, die Vereinigung zwischen den beiden Familien an, oder besser, zwischen den beiden gegensätzlichen Typen von Aristokratie, die am Ende des Romans vollzogen wird.
Es verwundert folglich nicht, daß in einer späteren Phase der Erzählung, als die Heirat Woldemars und Armgards bereits in den Vorbereitungen steckt, erneut auf das Joao-de-Deus-Motiv zurückgekommen wird. In dem Buch, das den Titel „Verlobung“ trägt, stoßen wir im 29. Kapitel, in einer für den ideologischen Gehalt des Romans zentralen Unterhaltung zwischen Melusine und Lorenzen, auf die Evozierung der oben genannten Szene. Die Erwähnung von Joao de Deus, dem „herrlichen Mann da weit
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