Heft 
(1979) 30
Seite
516
Einzelbild herunterladen

Irrungen, Wirrungen können auf diese Weise bei gewissen Tischgenos­sen eine ganz unerwartete Reaktion bewirken, weil sie gerade den schwachen Punkt in ihrer Persönlichkeit berühren.

Bei den Tischszenen im allgemeinen wird die menschliche Annäherung zwischen den Tischgenossen viel mehr durch die Notwendigkeit, am gesellschaftlichen Leben teilzunehmen, bewirkt als durch persönliche Affinitäten; die daraus entstehenden Beziehungen tragen deutlich den Stempel der sozialen Beziehungen unter den Tischgenossen. So haben die Freunde der Tante Amelie 23 oder der Kommerzienräte van der Straaten 24 oder Treibei 25 , die Mitglieder der Kessiner Redoute 26 oder die Freunde der Kastalia 27 im Grunde keinerlei andere Gemeinsamkeiten als die, sich oft um den gleichen Tisch herum versammelt zu sehen. Der in erster Linie soziale Charakter ihres Vertrautseins und ihrer Freund­schaft macht verständlich, daß die Unterhaltung sich vor allem um ihre gesellschaftlichen Sorgen und Anliegen dreht. Die Unterhaltungen bei Tisch machen den Eindruck eines Rednerstreits, und Antworten. und Gegenreden sind wie hingeworfene Handschuhe, die man rechtzeitig auf­zuheben verstehen muß. Die Luft bei diesen Diners wird durch Furcht verdickt: Furcht vor einer boshaften Antwort, die man zurückzugeben wissen muß; Furcht auch, daß man einem redegewandten Tischgenossen als Prügelknabe dienen wird; Furcht, daß man ganz einfach eine abgezielte rednerische Wirkung nicht erreicht oder aber eine Ungeschicklichkeit begeht. Und diese Furcht kann sich bis zu einem Gefühl des Unbehagens steigern, wie dies an der Tafel der van Straatens der Fall ist, wo niemand vor einer mißfälligen Bemerkung des Hausherrn sicher ist 28 .

Ganz selten sind die Empfänge, wo sich nur die Freude des sich Wieder- flndens ausdrückt, und ebenso selten sind die Unterhaltungen, in denen sich keine Friktionsthemen verbergen oder die bei einem der Tisch- genossen eine schlechte Stimmung oder gar Geisteshaltung verraten, die den ruhigen Ablauf des Gesellschaftsabends bedrohen.

In fast allen seinen Romanen legt Fontane die Unterhaltungen bei Tisch so an, daß sie Gelegenheit geben, die dauernden Spannungen zwischen den Tischgenossen zu offenbaren; man könnte sie mit einem Schlachtfeld in einem kalten Krieg vergleichen, in dem sich die Gegner mit einer Menge Anspielungen, Zweideutigkeiten, UnterschWelligkeiten und ungefäl ­ligen Bemerkungen bekämpfen. Und bei all dem: mit Ausnahme der drei ersten Tischszenen im RomanCecile, versammeln diese Mittag- oder Abendessen meistens die engen Freunde und Bekannten des Hauses, und meistens kennen sich die Gäste gegenseitig recht gut.

Der Verfasser kennzeichnet den intimen Charakter solcher Tafelgesell­schaften entweder durch Untertitel wieKleiner Zirkel 29 ,Allerlei Freunde 30 oderDer engere Zirkel 31 , oder indem er zu Beginn der Episode die engen Freunde und Bekannten aufzählt, die die Hauptpersonen bei Tisch umgeben; auf diese Art unterstreicht er noch mehr den Gegensatz zwischen der Vertrautheit der Tischgenossen und der Spannung oder einem gewissen Gefühl der Unsicherheit, die bei diesem Zusammensein herrscht. All dies zeigt, daß in den Erzählungen eine enge Beziehung besteht