teilen wiederholt wörtlich auf Thomas Manns Essay über den alten Fontane bezieht. Bisweilen wirkt das Breviarium, das kein übliches Brevier sein will und auch nicht ist, in seinem differenzierten Reichtum wie ein „Sieg des Realismus“ über die biologistisch-organischen Grenzen in der weltanschaulichen Position des Herausgebers.
Anfechtbar sind die im Vorwort auf S. 18 geäußerten Ansichten vom fehlenden „vollen Ausgleich zwischen Märker und Gaskogner, zwischen Zeitungsschriftsteller und Dichter“. Für unrichtig halten wir die Auffassung von der Fontane von Natur versagten Musikalität und von seiner angeblichen Weitschweifigkeit. Auf Fontanes tiefes, innerliches musikalisches Empfinden wies bereits 1890 Wilhelm Bölsche hin, als er meinte, daß durch Fontanes gestisch-rhythmische Gedichte „auch das feine Ohr eines Eichendorff befriedigt sein müßte“. Rhythmischen Charakter offenbaren darüber hinaus auch die Redeformen in der Altersprosa. Der Vorwurf der Weitschweifigkeit, der auf S. 97 noch durch den Vergleich mit dem Werke Adalbert Stifters unterstrichen wird, ignoriert die dramatische und auch lyrische Durchkomponiertheit des späten und reifen Erzählwerkes, das als Beispiel für den „eigentlichen“ Fontane vorwiegend zitiert wird. Was die Auswahl der Textstellen anbelangt, so stört auf den Seiten 102 und 103, daß die Mitteilung von Charakteristiken eigener Werke durch Fontane nach „Stine“ im wesentlichen abbricht. Die Selbsteinschätzungen von „Irrungen,Wirrungen“ und „Effi Briest“ sollten hier nicht fehlen.
Insgesamt jedoch vermittelt das Breviarium ein beglückendes, objektives und intensives Bild Theodor Fontanes, vor allem von seiner unbedingten Wahrhaftigkeit, von seiner Natürlichkeit und Unverstelltheit, von seiner Noblesse und seinem Humor. Die Tatsache der vierten Auflage überrascht mithin nicht. Hier gelang bereits vor Einsetzen der eigentlichen Fontane- Entdeckung und -Renaissance unter ganz bestimmten objektiven und subjektiven Voraussetzungen eine weithin gültige Auswahl, die, entsprechend dem unpathetischen Wesen Fontanes, vom klassizistisch-epigonalen Sentenzencharakter völlig frei ist und stattdessen historisch und biographisch Bedingtes und Allgemeingültiges in überzeugender Einheit verbindet.
— Dr. sc. Joachim Biener, Leipzig —
Richard Brinkmann: Theodor Fontane. Über die Verbindlichkeit des Unverbindlichen. 2. Auflage. Tübingen: Max Niemeyer Verlag 1977. 211 S. (Untersuchungen zur deutschen Literaturgeschichte. Bd. 19.)
Diese sehr gehaltvolle, aus profunder Sachkenntnis heraus geschriebene und darum lesenswerte Darstellung wesentlicher Probleme und Positionen, die das dichterische Schaffen Fontanes und zumal sein Briefwerk inplizieren, ist in zweiter Auflage erschienen. Wiewohl die Fontane-Forschung seit 1967, d. h. seit dem Erscheinen der ersten Auflage, große Fortschritte
525