Religion angewandt, kann das heißen, daß man am Christentum festhält, obgleich es seine Substanz bereits eingebüßt hat. Brinkmann erläutert das an Beispielen aus „Effi Briest“ und „L’Adultera“ (S. 166-169). Im politischen Bereich kann es bedeuten, daß überlebte gesellschaftliche Verhältnisse zwar als brüchig erkannt und trotzdem, zumal weil sie noch existieren, akzeptiert werden. Es ist dies freilich eine „letzte Stufe“, auf der man nur mit Hilfe von Gewaltsamkeit und Künstlichkeit zu verharren vermag. Fontane „hält die Balance noch durch“. Doch ist klar, daß es nur noch eines winzigen Schrittes bedarf, um das Alte, Überlebte endgültig fallenzulassen (S. 178 f.).
Bei der Herausarbeitung beider Versionen der Unverbindlichkeit kann sich Brinkmann sehr wohl auf Fontane stützen. Bei der Erörterung der zweiten Version wäre es aber nötig gewesen, der Berufung auf den Dichter nicht den Anschein einer Identifikation mit dem Dichter zu geben und in stärkerem Maße kritische Distanz zu wahren. Man hat oft den Eindruck, als ob Brinkmann bereit sei, die Auffassungen Fontanes widerspruchslos hinzunehmen. Es ist richtig, daß sich Fontane als, wie Brinkmann ihn nennt, „enthegelter Realist“ (S. 116), der von historischen Gesetzmäßigkeiten zwar etwas geahnt, sich diese aber nicht zueigen gemacht hat, oftmals nicht dazu durchringen konnte, in seinen dichterischen Werken bestimmte Zustände und Institutionen mit aller Eindeutigkeit als „unverbindlich“, weil überholt darzustellen. Aber an diesem Punkte muß die Kritik ansetzen, und es müssen die Grenzen aufgezeigt werden, die das poetische Schaffen des Romanciers Fontane nicht zu überwinden vermochte.
Es soll in diesem Zusammenhang auch darauf hingewiesen werden, daß Fontanes (teilberechtigter) Relativismus gewisse Gefahren in sich barg. Für Fontane ergab sich aus solcher Grundeinstellung nicht selten ein Schwanken zwischen gegensätzlichen Auffassungen, eine (ihm selbst sehr wohl bewußte) Unentschiedenheit, eine Halbheit, ein Sowohl-als-auch und die Neigung zu unzeitigen Kompromissen, wenn es galt, politisch-ideologische Positionen einzunehmen oder abzulehnen. Das konnte bis zum virtuosen Spiel mit Meinungen gehen, wie ein frappantes Beispiel aus dem „Wangenheim-Kapitel“ zeigt. An dieser vielsagenden Stelle berichtet Fontane, daß er mit Frau von Wangenheim, einer konsequenten und engagierten Katholikin, zahlreiche Gespräche über religiöse Probleme geführt habe. Fontane fährt fort: „Wie der ,Narr‘ an den mittelalterlichen Höfen konnte ich sagen, was ich wollte, denn sie wußte, daß jedes Verletzliche weit ausgeschlossen war, ja, sie hörte mit feinem Ohr heraus, daß ich inmitten aller Fragezeichen mit Vorliebe auf dem Standpunkt von •Wenn schon denn schon“ stand und inmitten einer gänzlichen Abkehr, wenn denn mal wohin geneigt sein sollte, mich mehr ihr zuneigte als allen andern.“
Hier bleibt alles im Ungewissen, und die Verbindlichkeit geht in Fragwürdigkeit unter.
Indes ist der Relativismus, mag er nun legitim oder extravagant sein, nicht Fontanes einziges und letztes Wort. Fontane ist darüber hinaus-
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