Heft 
(1979) 30
Seite
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Dem ist zuzustimmen, wenn dieKlischees der Zeit ihrerseits zu den realgeschichtlichen Gegebenheiten, der Gesellschaftsentwicklung und den Funktionen ideeller Leitbilder in Beziehung gesetzt werden. Schusters Versuch, einen christlichenErwartungshorizont (Jauß) zu skizzieren, gehört zu einem rezeptionsorientierten Verfahren, bei dem die Aufnahme­bedingungen (als zeitgenössische Voraussetzungen) in die Interpretation eingebracht werden. Die möglichen Lesarten oder Bedeutungen eines Textes liegen nicht fest (ohne daß sie beliebig wären), und wer das Gesamtwerk in seinen Schichten als Rezeptionsvorgabe aufschlüsselt, leistet wichtige Vorarbeiten für tiefere Einsichten in den Zusammenhang von Struktur und (mögiichen) Funktionen, für die Darstellung gesellschaft­licher Rezeptionsweisen 3 .

So radikal gesellschaftskritisch sich der Grundgedanke Schusters versteht, er ist dies nicht eigentlich im Sinne historischer Bewegung. Verfasser weist nach, daß christliche Leitbilder bei Fontane zur Aushöhlung ihres ursprünglichen Sinnes verwandt werden und daß mit dieser Verwendung eine äußerst scharfe Attacke gegen die zeitgenössische christliche Gesell­schaft (S. 126) verbunden ist.

Durch die Art, wie sie (die Gesellschaft, O. K.) ihre Mitglieder auf ihre Rollen fixiert, werden diese gänzlich zu Gefangenen: und allein dadurch, so zeigt es Fon­tane, sieht diese Gesellschaft ihre Ordnung gewahrt. (ebd.)

Rollenfixierung als Gesellschaftskritik darin kulminieren die Vergleiche Schusters im ersten Teil der Arbeit. Der anregende Wert der Kap. 14 liegt dort, wo erkennbare Klischees der bürgerlich-feudalen, preußisch­deutschen Gesellschaft nach 1870 aufgespürt werden. Der Blick auf die Malerei der Zeit und Fontanes Vorliebe für bestimmte Muster leistet dabei hoch einzuschätzende Dienste (vgl. den Überblick S. 184). Im Ergebnis entstehen großflächige Analogien:

Dev Mann, so zeigt es Fontane in ,Ef£i Briest, hat ln dieser Gesellschaft unver­meidlich die Rolle Gottes inne, die Frau ist die züchtige Maria. Weicht sie von dieser Vorstellung ab, so wird sie zur sündigen Eva, und unerbittlich vollzieht sich an ihr das göttliche Strafgericht. Gesellschaftliches Beben ist so nur noch Repro­duktion christlicher Mythologeme . . . (S. VII)

Dieses unerbittliche Schema vermag auch Schuster nicht ganz durchzu­halten. Er verfolgt es auf zweierlei Weise: Einmal, indem er die Details vom Ganzen her deutet. Der Garten in Hohencremmen, einhortus conclusus, wird zum Sinnbild für Paradies und jungfräuliche Tugend, das Spiel mit den Stachelbeerschlusen zur Verkündigung (der Passion). Die Schaukel, ein Brett mit Stricken, kann Symbol für den Galgen sein, Rhabarberblätter können die Symbolik des Feigenbaumes tragen. Kessin wird zu Bethlehem, und statt Ochs und Esel können dort Haifisch, Kroko­dil und schwarzes Huhn fungieren (S. 89 fi:.). In solchen Passagen ver­selbständigt sich die allgemeinere Analogie zum Lebensweg der Heldin, der Text wird zur Allegorie, die schöpferisech Energie des Schreib- und Lesevorganges wird auf wenige Punkte reduziert.

Aber Schuster arbeitet auch anders.

Von denkbaren Symbolwerten aus (Kindheit = Paradies und Geborgen­heit; Effi == Maria) zeigt er, wie durch Vereinsamung eine neueRolle

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