Dem ist zuzustimmen, wenn die „Klischees der Zeit“ ihrerseits zu den realgeschichtlichen Gegebenheiten, der Gesellschaftsentwicklung und den Funktionen ideeller Leitbilder in Beziehung gesetzt werden. Schusters Versuch, einen christlichen „Erwartungshorizont“ (Jauß) zu skizzieren, gehört zu einem rezeptionsorientierten Verfahren, bei dem die Aufnahmebedingungen (als zeitgenössische Voraussetzungen) in die Interpretation eingebracht werden. Die möglichen Lesarten oder Bedeutungen eines Textes liegen nicht fest (ohne daß sie beliebig wären), und wer das Gesamtwerk in seinen Schichten als Rezeptionsvorgabe aufschlüsselt, leistet wichtige Vorarbeiten für tiefere Einsichten in den Zusammenhang von Struktur und (mögiichen) Funktionen, für die Darstellung gesellschaftlicher Rezeptionsweisen 3 .
So radikal gesellschaftskritisch sich der Grundgedanke Schusters versteht, er ist dies nicht eigentlich im Sinne historischer Bewegung. Verfasser weist nach, daß christliche Leitbilder bei Fontane zur Aushöhlung ihres ursprünglichen Sinnes verwandt werden und daß mit dieser Verwendung „eine äußerst scharfe Attacke gegen die zeitgenössische christliche Gesellschaft“ (S. 126) verbunden ist.
„Durch die Art, wie sie (die Gesellschaft, O. K.) ihre Mitglieder auf ihre Rollen fixiert, werden diese gänzlich zu Gefangenen: und allein dadurch, so zeigt es Fontane, sieht diese Gesellschaft ihre Ordnung gewahrt.“ (ebd.)
Rollenfixierung als Gesellschaftskritik — darin kulminieren die Vergleiche Schusters im ersten Teil der Arbeit. Der anregende Wert der Kap. 1—4 liegt dort, wo erkennbare Klischees der bürgerlich-feudalen, preußischdeutschen Gesellschaft nach 1870 aufgespürt werden. Der Blick auf die Malerei der Zeit und Fontanes Vorliebe für bestimmte Muster leistet dabei hoch einzuschätzende Dienste (vgl. den Überblick S. 184). Im Ergebnis entstehen großflächige Analogien:
„Dev Mann, so zeigt es Fontane in ,Ef£i Briest“, hat ln dieser Gesellschaft unvermeidlich die Rolle Gottes inne, die Frau ist die züchtige Maria. Weicht sie von dieser Vorstellung ab, so wird sie zur sündigen Eva, und unerbittlich vollzieht sich an ihr das göttliche Strafgericht. Gesellschaftliches Beben ist so nur noch Reproduktion christlicher Mythologeme . . . “ (S. VII)
Dieses unerbittliche Schema vermag auch Schuster nicht ganz durchzuhalten. Er verfolgt es auf zweierlei Weise: Einmal, indem er die Details vom Ganzen her deutet. Der Garten in Hohencremmen, ein „hortus conclusus“, wird zum Sinnbild für Paradies und jungfräuliche Tugend, das Spiel mit den Stachelbeerschlusen zur Verkündigung (der Passion). Die Schaukel, ein Brett mit Stricken, kann Symbol für den Galgen sein, Rhabarberblätter können die Symbolik des Feigenbaumes tragen. Kessin wird zu Bethlehem, und statt Ochs und Esel können dort Haifisch, Krokodil und schwarzes Huhn fungieren (S. 89 fi:.). In solchen Passagen verselbständigt sich die allgemeinere Analogie zum Lebensweg der Heldin, der Text wird zur Allegorie, die schöpferisech Energie des Schreib- und Lesevorganges wird auf wenige Punkte reduziert.
Aber Schuster arbeitet auch anders.
Von denkbaren Symbolwerten aus (Kindheit = Paradies und Geborgenheit; Effi == Maria) zeigt er, wie durch Vereinsamung eine neue „Rolle“
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