Heft 
(1967) 5
Seite
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Werner Lincke (Stuttgart)

Theodor Fontane als Theaterkritiker

Kritiken schreiben erfordert einen Reifezustand, Kritiken lesen aber auch.

Th. Fontane (1882)

Theodor Fontane lebt im Volksbewußtsein als Schöpfer derEffi Briest' und als Balladendichter, allenfalls noch als Dichter der »Wanderungen durch die Mark Brandenburg' oder als Gesellschaftskritiker. Es ist nicht allgemein bekannt, daß Fontane uns ein sehr reiches und vielseitiges Werk an journalistischen Arbeiten, Buch- und Bühnenrezensionen, literarischen Essays und anderen Zeitungs- und Zeitschriftenveröffentlichungen hinter­lassen hat. Aber den wenigsten ist gegenwärtig, daß dieser Dichter des poetischen Realismus in der Geschichte der Theaterkritik als dereinzige wirklich große journalistische Ausdruckskünstler" gilt. Männer vom Fach wie Ehm Welk 1 oder Walter Kiaulehn 2 bezeichnen ihn als dengrößten deutschen Theaterkritiker, der in Zeitungen schrieb", als denbesten Mann zur Kritik", den sich dieVossische Zeitung' als Nachfolger von Gubitz 3 aussuchen konnte; als den Kritiker, der in wenigen Jahren der Held der jungen Schriftsteller und das Schicksal der Schauspieler und zeitgenössi­schen Dramatiker wurde und durch sein Beispiel wie durch denfontani- schen Feuilletonismus' eine neue Generation von Theaterkritikern erzog, die eine Revolution der dramatischen Literatur und Kunst herbeiführten. Es wurde Fontane nachgesagt, daß er des Broterwerbs wegen Theater­kritiker geworden sei. Das mag für seine journalistische Tätigkeit im Dienst der preußischen Regierung Manteuffel (1851-1858) zugetroffen haben, auch für die Übernahme der Stellung als Redakteur für den englischen Ar­tikel bei derKreuzzeitung" (1860-1870), deren konservative Leitung sei­nen Überzeugungen nicht entsprach, aber für die Annahme der Tätigkeit bei der liberalenVossischen' stand die Neigung zur Sache entscheidend im Vordergrund. Denn in Wirklichkeit ist die Kritik Bestandteil von Fontanes ureigenstem Wesen. Sie ist bei ihm an keine politischeBewegung", keinen literarischenAufbruch", an keine Jahreszahl gebunden. Von Jugend an hatte Fontane in allem den Menschen gesucht, einetiefe, so recht aus dem Herzen kommende Humanität" alsRichtpunkt des Lebens und Ur- teilens", wie er es Dubslav imStechlin", seiner letzten autobiographischen Dichtung, aussprechen läßt.Mit dieser kritischen Mitte im Herzen zieht Fontane zu Felde, wenn er die menschliche Entfaltung seines Nächsten ge­fährdet oder gehemmt sieht; wenn starres, dünkelhaftes Festhalten am Vorurteil, an gesellschaftlichen und politischen Institutionen das neu Herauf­gekommene unterdrücken will; wenn überalterte Ordnungen Respekt und

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