Werner Lincke (Stuttgart)
Theodor Fontane als Theaterkritiker
„Kritiken schreiben erfordert einen Reifezustand, Kritiken lesen aber auch.“
Th. Fontane (1882)
Theodor Fontane lebt im Volksbewußtsein als Schöpfer der „Effi Briest' und als Balladendichter, allenfalls noch als Dichter der »Wanderungen durch die Mark Brandenburg' oder als Gesellschaftskritiker. Es ist nicht allgemein bekannt, daß Fontane uns ein sehr reiches und vielseitiges Werk an journalistischen Arbeiten, Buch- und Bühnenrezensionen, literarischen Essays und anderen Zeitungs- und Zeitschriftenveröffentlichungen hinterlassen hat. Aber den wenigsten ist gegenwärtig, daß dieser Dichter des poetischen Realismus in der Geschichte der Theaterkritik als der „einzige wirklich große journalistische Ausdruckskünstler" gilt. Männer vom Fach wie Ehm Welk 1 oder Walter Kiaulehn 2 bezeichnen ihn als den „größten deutschen Theaterkritiker, der in Zeitungen schrieb", als den „besten Mann zur Kritik", den sich die „Vossische Zeitung' als Nachfolger von Gubitz 3 aussuchen konnte; als den Kritiker, der in wenigen Jahren der Held der jungen Schriftsteller und das Schicksal der Schauspieler und zeitgenössischen Dramatiker wurde und durch sein Beispiel wie durch den „fontani- schen Feuilletonismus' eine neue Generation von Theaterkritikern erzog, die eine Revolution der dramatischen Literatur und Kunst herbeiführten. Es wurde Fontane nachgesagt, daß er des Broterwerbs wegen Theaterkritiker geworden sei. Das mag für seine journalistische Tätigkeit im Dienst der preußischen Regierung Manteuffel (1851-1858) zugetroffen haben, auch für die Übernahme der Stellung als Redakteur für den englischen Artikel bei der „Kreuzzeitung" (1860-1870), deren konservative Leitung seinen Überzeugungen nicht entsprach, aber für die Annahme der Tätigkeit bei der liberalen „Vossischen' stand die Neigung zur Sache entscheidend im Vordergrund. Denn in Wirklichkeit ist die Kritik Bestandteil von Fontanes ureigenstem Wesen. Sie ist bei ihm an keine politische „Bewegung", keinen literarischen „Aufbruch", an keine Jahreszahl gebunden. Von Jugend an hatte Fontane in allem den Menschen gesucht, eine „tiefe, so recht aus dem Herzen kommende Humanität" als „Richtpunkt des Lebens und Ur- teilens", wie er es Dubslav im „Stechlin", seiner letzten autobiographischen Dichtung, aussprechen läßt. „Mit dieser kritischen Mitte im Herzen zieht Fontane zu Felde, wenn er die menschliche Entfaltung seines Nächsten gefährdet oder gehemmt sieht; wenn starres, dünkelhaftes Festhalten am Vorurteil, an gesellschaftlichen und politischen Institutionen das neu Heraufgekommene unterdrücken will; wenn überalterte Ordnungen Respekt und
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