Gehorsam fordern, während die Entwicklung längst über sie hinweggegangen ist; wenn Standes- und Kastenfetischismus, begleitet von prätentiöser Anmaßung und Heuchelei, den Geltungsanspruch der allein durch Leistung und Gesinnung mündig Gewordenen verwirft; wenn Strebertum und Klüngelwirtschaft ungerechtfertigte Ausschließlichkeitsansprüche verfechten; wenn einer neureichen Geldaristokratie Macht und Geltung zufallen oder von ihr usurpiert werden, ohne daß sie die rein menschlichen Voraussetzungen der Anwartschaft auf Führung erfüllt." 4
Fontanes kritischer Verstand wurde vor allem während seiner England- aufenthalte (1844, 1852, 1855-1859) geschärft und geschult. Der Journalismus und der Anblick des Ungewohnten und Fremden erziehen ihn zu scharfer Beobachtung der Menschen und Dinge. Er besucht in London und Umgebung die Matrosenkneipen, Werbelokale, „Debating Clubs" und Armutsviertel ebenso wie die Theater, Museen und Kirchen, er besichtigt die Märkte und Schlösser der ländlichen Umgebung, ebenso wie er in der City die gesellschaftlichen Verhältnisse studiert. Im Vergleich erkennt er, daß in Deutschland Kunst und Kultur auf Kosten des Lebens überschätzt werden. „Hier hab' ich nun das Leben", schreibt er an einen „Tunnel"- Freund, „hier habe ich die Dinge selbst, nicht mehr ihre bloße Beschreibung". In England wächst Fontane geistig-politisch in die europäischen Zusammenhänge hinein und bildet daneben jenen für ihn so charakteristischen feuilletonistischen Stil heran, jene Mischung von Verbindlichkeit und Prägnanz, Darstellung und Betrachtung, die ihn zu den Klassikern des Feuilletons erhebt. 5
In London liegen auch die Anfänge von Fontanes Theaterkritik. Am 22. Juni 1852 veröffentlicht er in der „Preußischen (Adler-) Zeitung" eine Besprechung des Londoner Gastspiels von Devrient. Hieran schließt sich Fontanes Auseinandersetzung mit dem englischen Theater (1855-1859). 6
Das auf den Englandaufenthalt folgende Jahrzehnt ist ausgefüllt von der Arbeit an den „Wanderungen", die im Feuilleton des Cotta'schen Morgenblattes erscheinen, und der Tätigkeit als Redakteur an der „Kreuzzeitung". Der danach folgende Frontwechsel von der parteigebundenen konservativen „Kreuzzeitung" zur liberalen „Vossischen Zeitung" - zugleich der Sprung vom politischen Journalisten zum Literatur- und Kulturkritiker - ist typisch für Fontane, dem „Independence über alles!" Richtschnur seiner Entschlüsse ist.
Im Jahre 1870 übernimmt Fontane als „Referent" die Besprechungen der Theateraufführungen im Königl. Schauspielhaus am Gendarmenmarkt für die angesehene „Vossische Zeitung für Staats- und gelehrte Sachen" - 20 lange Jahre -, mit Unterbrechung von wenigen Monaten durch die Kriegsberichterstattung und Gefangenschaft in Frankreich (1870) und die Sekretärtätigkeit bei der Kgl. Kunstakademie (1876). Von 1889 bis
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