Heft 
(1967) 5
Seite
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Juni 1890 hatte er dasReferat über die erste Spielzeit der .Freien Bühne'" inne, die von Otto Brahm in fortschrittlichem Geiste geleitet wurde.

Während die Auseinandersetzung mit der Literatur, der alten sowie der zeitgenössischen deutschen und ausländischen, sich durch Fontanes ganzes Leben zieht 7 , beginnt die kritische Auseinandersetzung mit dem deutschen Theater bei ihm erst verhältnismäßig spät und bildet eine abgrenzbare Epoche. Fontane selbst bezeichnet sie im 3. Teil seiner (unvollendet ge­bliebenen) Autobiographie alsKritische Jahre - Kritikerjahre" und zu­gleich als seinenletzten Lebensabschnitt". 8 Alles, was sich daran anschloß, ist für ihn nur nochNachspiel". 9 Über diesen Zeitabschnitt - insbesondere sein Debüt als Theaterkritiker - schreibt Fontane:Ich habe die erste TitelhälfteKritische Jahre" gewählt, weil die Jahre zwischen 60 und 70, wo das Zünglein beständig schwankt,kritische Jahre" sind, aber wenn dieser Teil des Titels auch anfechtbar sein sollte, die zweite Hälfte tritt desto berechtigter auf: meine Lebensjahre von 50 bis 70 waren meine Kri­tikerjahre. Zwanzig Jahre lang, von 1870 bis 90, hatte ich für dieVossi- sche" das Referat über die Königlichen Schauspiele (Hülsens letzte und Graf Hochbergs erste Jahre), und was ich in diesen zwanzig Jahren auf meinem Parkettplatz Nr. 23 erlebt habe, will ich auf den nachstehenden Seiten erzählen: über Stücke, Premieren, Schauspieler, Dichter, ein paar­mal auch von mir selbst. Es war keine uninteressante Zeit, die Zeit von der Aufrichtung des Reiches an bis zum Sturze dessen, der es aufgerichtet hatte. Das war der große Hintergrund. Auf der Königlichen Bühne spielte sich wenig davon ab. Aber doch auch hier bereitete sich ein Neues vor, es klopfte an, ohne eingelassen zu werden. Aber man kapitulierte. Es waren die zwanzig Jahre, wo. Kleinerer zu schweigen, Gutzkow, Laube, Freytag mehr und mehr das Feld räumten und Gestalten auftraten, in denen sich ein Neues wenigstens ankündigte: Wilbrandt, Lindau, Wildenbruch. Jene beherrschten das Jahrzehnt von 70 bis 80, diese das von 80 bis 90 . . . 1870 starb der alte Gubitz; die Vossische Zeitung sah sich nach einem Ersatz­mann für ihn um, und ich rückte an seine Stelle. Mit dem Beginn der Spiel­zeit . . . nahm ich meinen Kritikerplatz ein. Dies war damals Nummer 23. Schon eine merkwürdige Zahl. In überfüllten Hotels bin ich fast immer Nummer 23 untergebracht worden und habe da Schreckliches erlebt. Das kann ich von Nummer 23 im Königlichen Schauspielhaus eigentlich nicht sagen. Ich habe da viel angenehme Stunden zugebracht, aber ein merk­würdiger Platz war es doch auch. Es war nämlich kein eigentlicher Parkett­platz, sondern nur ein Annex, ein Vorposten, ein ausgebautes Fort, man könnte auch sagen ein Sperrfort, und wuchs ganz, in die scharfe Ecke zwi­schen Proszeniums- und Parkettlogen hineingebaut, von dieser Ecke her in den Parkettgang vor. Knierempeleien waren also ganz was Alltägliches. Das häßlichste war die Abgesondertheit. Wer eine hohe Meinung von sich hatte, der konnte sich beglückt fühlen, hier ein Gegenstand der Aufmerk -

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