geht er neue Wege auf dem Gebiet der Theaterkritik. Ausgangspunkt ist nicht eine Kunsttheorie, irgendeine ideale Forderung, sondern der gegebene Augenblick. Seine Besprechungen sind plaudernde Kritik, ,kleiner Stil". 13 Er verbindet scheinbare Saloppheit der Formulierungen mit einem Höchstmaß an stilistischer Präzision. Wie er vom Ästhetischen aus gegen die Konventionen kämpft, wie er sich im politisch-sozialen Bereich von Adel und Bourgeoisie distanziert, so beobachtet er - inzwischen selbst »Zuschauer" des Lebens geworden - von seinem Parkettplatz aus in der für ihn charakteristischen Haltung: „. . . mit hochgezogenen Brauen . . . den Oberkörper vorgebeugt . . . den sorgenvollen Blick gespannt, in leibhaftiger Fragestellung" 14 das Spiel der Bühne; er kämpft mit absoluter Vorurteilslosigkeit und stark ausgeprägtem Verantwortungsgefühl gegen Unwahrheit und Unnatur, gegen kunstfremde Routine, gegen „Eitelkeit und Empfindelei" der Schauspieler, und das alles im unterhaltenden Plauderton, mit dem ihm eigenen Charme und Humor. So wendet er sich auch gegen den musealen „Goethegötzenkult" und beweist gerade dadurch seine Hochachtung vor der deutschen Klassik. 15
„Wahrung des Lebens durch Spiegelung in der dramatischen Kunst" verlangt Fontane schon 1852 - als Dreiunddreifjigjähriger. (Briefe über englisches Theater) Das Theater soll „nicht Bild des Lebens, sondern Vorbild' sein. Er lehnt bei der Kunst die Scheinwelt ab und verlangt Wahrheit und Menschlichkeit - nicht nur Wirklichkeit oder Leben. Das versteht Fontane unter Realismus. Der Grundsatz der Humanität und der Wahrheit, nach denen er in Dichtung und Kritik die Dinge betrachtet, sind ihm auch im Leben absolut, während alles andere, auch die „Richtigkeiten", relativ ist. Werden diese Grundsätze verletzt, wird Fontane als Mensch und als Kritiker skeptisch. Nach dem Grade des Menschlichen beurteilt er im letzten alle Theaterstücke des Kgl. Schauspielhauses und der „Freien Bühne", von Sophokles' „König Ödipus" (1873) bis Holz' und Schlafs „Familie Selicke" (1890). Im Leben wie in der Kunst lehnt Fontane die Scheinwelt ab. „Je höher die Eckhäuser der Gründerjahre mit ihren getrennten Eingängen für „Herrschaften" und für „Dienstboten" emporwuchsen, je mehr das Schauspiel zum vergoldeten Spiegel jener Jahre, ihrer Moral und Mentalität wurde, um so mehr fühlte Fontane sich davon abgestoßen. Es machte ihm keinen Spaß mehr, dauernd Lustspiele zu besprechen, bei denen man weinen konnte, und Trauerspiele, bei denen einen unweigerlich das Lachen ankam. Das meiste, was für die Bühne geschrieben wurde, zehrte von falschen Gefühlen, lebte von falschen Vorstellungen und gab nur eine verlogene Fassade des Lebens wieder, höhere Töchter und zukünftige Referendarsgattinnen mochten Gefallen an diesen plüschgesättigten Rührstücken aus dem bürgerlichen Leben finden, ihn, den Mann auf Nummer 23, fingen diese Stücke an zu langweilen und zu empören. Gleich vielen anderen Geistern jener Zeit beherrschte ihn „ein wilder Heißhunger nach Reali-
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