tat". Sentimentales und schlechtes Theater erlebte man auf Schritt und Tritt während des Alltags, man brauchte nur zu Kranzier oder zu Kroll zu gehen oder einen Reserveleutnant auf Sommerfrische zu beobachten - was man wollte, war Leben auf der Bühne. Dieser Forderung schließt sich auch Fontane an und begrüßt die Eröffnung der „Freien Bühne", in deren Zeitschrift es hieß: ,1m Mittelpunkt unserer Bestrebungen soll . . . die neue Kunst stehen, die die Wirklichkeit erschaut und das gegenwärtige Dasein. Einst gab es eine Kunst, die vor dem Tage auswich, die nur im Dämmerschein der Vergangenheit Poesie suchte . .. Wir schwören auf keine Formel und wollen nicht wagen, was in ewiger Bewegung ist, Leben und Kunst an starren Zwang der Regel anzuketten. Dem Werdenden gilt unser Streben, und aufmerksamer richtet sich unser Blick auf das, was kommen will, als auf jenes ewig Gestrige, das sich vermißt, in Konventionen und Satzungen unendliche Möglichkeiten der Menschheit, einmal für immer, festzuhalten . . ," 16 Ja, „dem Werdenden gilt unser Streben!" In diesem Sinne schlägt der .Theater-Fremdling' Fontane, wie ein gehässiger Rezensent die Initialen, mit denen Fontane seine Rezensionen zu signieren pflegte, gedeutet hat, 17 eine Bresche für den Naturalismus, aber in einer für seinen abwägenden Geist, der einerseits die bestehende Ordnung bejaht und sie andererseits in Frage stellt, charakteristischen Einschränkung; am Ende seines Lebensweges läßt der alte Fontane es eine seiner Romangestalten im „Stechlin" aussprechen: Ich respektiere das Gegebene. Daneben freilich auch das Werdende, denn eben dieses Werdende wird über kurz oder lang abermals ein Gegebenes sein. Alles Alte, soweit es Anspruch darauf hat, sollen wir lieben, aber für das Neue sollen wir eigentlich leben."
Mit dem Eintreten für den Naturalismus hat Fontane den überzeugendsten Nachweis seiner Bedeutung als Literatur- und Theaterkritiker erbracht. Die geistig-literarische Auseinandersetzung mit Zola und Ibsen ging voraus, als er, der Siebzigjährige, in seiner berühmt gewordenen Theaterkritik zu dem Schauspiel „Vor Sonnenuntergang" des fünfundzwanzigjährigen Ger- hart Hauptmann schreibt: „Die Jugend hat recht. Das Überlieferte ist vollkommen schal und abgestanden."
Fontane, der „stilvolle Realist", aber legt bei seiner kritischen Beurteilung der naturalistischen Dramen das Hauptgewicht nicht auf das Sozialpolitische - das eigentliche Anliegen des Naturalismus -, sondern auf das „Ästhetisch-Revolutionäre" der neuen Kunstrichtung, auf die künstlerisch wahre Gestaltung des wahren Lebens. Dieses Anliegen steht auch im Mittelpunkt von Fontanes letzter Theaterrezension, der Besprechung von Hauptmanns Drama „Die Weber" (1894). Fontane hat den festen Glauben, daß der trotz aller Lebensnähe übersteigerte Naturalismus nicht „mit der Häßlichkeit ein für allemal vermählt" bleibe. „Er (der Naturalismus) wird erst ganz echt sein, wenn er sich umgekehrt mit der Schönheit vermählt und das nebenherlaufende Häßliche, das nun mal zum Leben gehört, verklärt hat." 18
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