PETER GOLDAMMER (WEIMAR)
Storms Werk und Persönlichkeit im Urteil Th. Fontanes
(Der Vortrag wurde am 17. September 1966 vor der Theodor-Storm-Gesellschaft in Husum und am 17. März 1967 im Theodor-Fontane-Archiv in Potsdam gehalten.)
Ende Mai 1868 erhielt Storm, nach mehrjähriger Unterbrechung ihrer Korrespondenz, aus Thale einen Brief Fontanes, den ich an den Anfang meiner Betrachtungen stellen will. „Vor acht Tagen“, schrieb Fontane, ..habe ich mich hieher in diese Harzesstille zurückgezogen, wohlweislich zu einer Zeit, wo der Berliner diese Gegenden nodi nicht unsicher macht und seine Butterstullen-Papiere noch nicht in den Bodekessel wirft. Es führte mich die Absicht hierher zu ruhn, zu atmen und, mit Beschämung sei es gesagt, auch zu dichten. Ich nahm nur drei Bücher mit: die Psalmen vom alten David, die Erzählungen eines Großvaters vom alten Scott und die Gedichte von Theodor Storm. In allen dreien hab ich tüchtig gelesen, gestern abend zwei Stunden lang in Theodor Storm, und als mir (ich weiß nicht, zum wievielsten Male in meinem Leben) beim Lesen von ,1m Herbste 1850“, ,Ein Epilog 1850“ und vor allem von .Abschied 1853“ wieder die dicken Wonnetränen übers Gesicht liefen, da nahm ich mir vor, Ihnen diesen Brief zu stiften und endlich mal den Zoll schuldigster Dankbarkeit gegen Sie zu entrichten. Ja, lieber Storm, Sie sind und bleiben nun mal mein Lieblingsdichter, und, ich bin dessen ganz gewiß, Sie haben auf der ganzen weiten Welt keinen größeren Verehrer als mich ... Je älter ich werde, je mehr überzeug ich! rhich, daß ebenso fein nuanciert wie die Begabungen der Produzierenden auch die Geschmacksbedürfnisse der Genießenden sind und daß die sogenannten großen Poeten die Bedürfnisse gewisser Naturen durchaus nicht decken. Damit ist durchaus nichts gegen die Großen gesagt, sie bleiben die Großen; Bürger ist kein Schiller, Heine ist kein Goethe, Storm ist kein Wieland, und doch decken Bürger- Heine-Storm mein Herzensbedürfnis unendlich mehr als das große Dreigestirn. Nicht einmal für die Schönheit des .Königs von Thule“ ist mir das volle Verständnis aufgegangen ... Aber ganz geht mir das Herz auf, wenn von Heine ich lese: ,Sie mußten beide sterben, sie hatten sich viel zu lieb“, oder wenn ich lese: ,So soll es wie ein Schauer dich berühren und wie ein Pulsschlag in dein Leben gehn“. Es gibt für mich keinen lyrischen Dichter, der meine Empfindung so oft träfe wie Sie.“ 1 Ich habe diesen Brief in extenso zitiert, weil Fontanes Bekenntnis zu Storm hier mit einer Unbedingtheit formuliert ist wie nirgends sonst und weil ebendieses Bekenntnis in einem krassen Widerspruch zu stehen scheint zu zahlreichen anderen Äußerungen und Urteilen, vor allem zu Fontanes späterem, ebensooft bewundertem wie geschmähtem Storm- Essay aus der Autobiographie „Von Zwanzig bis Dreißig“. Die wider-
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