Wenn es Fontane, als Angestellter eines ministeriellen preußischen Presseorgans, auch nicht wagte, die Namen des preußischen Ministerpräsidenten von Man teuffei oder des Berliner Polizeipräsidenten von Hinckeldey als Prototypen der Reaktion zu nennen, sondern statt ihrer den nicht minder reaktionären und unpopulären kurhessischen Minister Hassenpflug apostrophierte, so kann doch kein Zweifel darüber bestehen, daß auch er das „Oktoberlied“ als einen Protest gegen die Konterrevolution in ganz Deutschland verstand und interpretierte.
Wie aber ist es nun zu erklären, daß bei so vielen Gemeinsamkeiten der beiden Dichter doch ein anhaltendes herzliches Einvernehmen, eine dauernde Freundschaft nicht zustande kafn?
Zunächst: die Erwartung, die man an Storms Mitwirkung in dem Berliner Sonntagsverein „Der Tunnel über der Spree“ geknüpft hatte, erfüllte sich nicht. Dieser 1827 gegründeten literarischen Gesellschaft gehörten neben hohen Offizieren und Beamten Kaufleute und Handwerker an, und man versuchte die Unterschiede der gesellschaftlichen Stellung — wenigstens während der sonntäglichen Sitzungen in einem Berliner Gasthaussaal — dadurch zu überbrücken, daß sich die Mitglieder des Vereins mit ihren meist der Literaturgeschichte entnommenen „Tunnel“-Namen anredeten. „Hans Sachs“ konnte unbefangener mit „Maler Müller“ verkehren als der Bäckermeister Leo Goldammer mit dem Baron Hugo von Blomberg. Die Folge dieser recht problematischen, weil künstlich geschaffenen sozialen Harmonie waren eine Reihe Tabus, die in den Sitzungen des Vereins nicht verletzt werden durften: an erster Stelle die Diskussion über politische und gesellschaftliche Fragen. Und das war nicht zuletzt der Grund dafür, daß es bei der Auseinandersetzung um neue literarische Werke fast ausschließlich um Fragen der formalen Gestaltung ging. Auf diese Weise kultivierte man ein steriles Epigonentum. Weder Gotfried Keller noch Wilhelm Raabe, die beide in den fünfziger Jahren längere oder kürzere Zeit in Berlin gelebt haben, sind mit dem „Tunnel“-Kreis in Verbindung getreten. Und selbst Fontane, einst eines der aktivsten „Tunnel“-Mitglieder, hat später das Wort vom „Rauch und Trinkkabinett mit literarischem Anstrich“ geprägt.
Im Storm-Kapitel der autobiographischen Schrift „Von Zwanzig bis Dreißig“ hat Fontane geschildert, warum es mit Storm im „Tunnel“ „nicht recht gehen“ wollte: Der Vortrag literarischer Werke in einem Gasthaus, während die Kellner Getränke servierten oder kassierten, war recht dazu angetan, einen sensiblen Lyriker wie Storm mit Grauen und Entsetzen zu erfüllen. Er kam, wie Fontane sagt, „zu keiner Geltung, weil er sowohl wie das, was er vortrug, für Lokal und Menschen nicht kräftig genug gestimmt war“. Enger verbunden fühlte sich Storm dagegen dem „Rütli“, einer Art Zweigverein des „Tunnels“, den Franz Kugler 1852
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