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12. Trotz der alsbald einsetzenden und nun seit mehr als hundert Jahren laufend vollzogenen Vermischung von Altbewohnem und Zuwanderern 52 ermittelte Fontane noch aus eigener Beobachtung eine Fülle volkskundlicher Relikte, die er als „speziell wendische Eigentümlichkeiten“ ins Feld führen kann 53 . Vor Wohnweise und Hausbauart in den Altdörfern, vor Merkmalen der Wirtschaft und vor abergläubischen Erscheinungen gab er hierbei den Vorzug der „wendischen Tracht“, deren Überreste sich „in einigen Dörfern bis auf diesen Tag erhalten haben. In Vollständigkeit existiert sie nur noch in Quilitz, dem gegenwärtigen Neu-Hardenberg“ 5 '*.
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Die vorstehend in 12 Punkten zusammengefaßten Angaben Fontanes, die sich im engeren geographischen Sinn auf das Oderbruchgebiet beziehen, stellen sich in ihrem Kernstück (Punkt 5 bis 8) zugleich als Apologie der slawischen Restbevölkerung Deutschlands schlechthin dar. In diesem Kernstück steht Fontane — so will uns scheinen — fest eingebettet in die Tradition einer seit dem Aufklärungszeitalter deutlich zutage tretenden humanitär — Philanthropen Strömung, die sich „vielfach versetzt mit Naturschwärmerei und Liebhaberei für ländliches Wesen im Stile Rousseaus“ 55 vor allem in der regionalgeschichtlichen sowie der ökonomischen und der Reiseliteratur des ausgehenden 18. und der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts deutlich bemerkbar machte. Viele deutsche Autoren der genannten Gattung brachten den slawischen Untertanen „mitfühlendes Verständnis entgegen, stellten ihnen ein günstiges Zeugnis aus, und nahmen sie gegen Verachtung und Unterdrückung in Schutz“ 56 . Um einen Vergleich mit Fontane zu ermöglichen, sei darum nachstehend eine Reihe konkreter Beispiele aus in ihrer Art bedeutenden Schriftstellern der ihm voraufgehenden Jahrzehnte angeführt, die wir als „pars pro toto“ gewertet wissen möchten, weshalb die Frage, ob Fontane gerade die pro exemplo angeführten Stimmen gekannt hat, genauso zurücktritt, wie der Umstand, daß diese Stimmen sich nicht auf das Oderbruch beziehen, sondern auf die sorbischen Lausitzen, also jenen Bereich, in dem die Realität des deutsch-slawischen Spannungsfeldes auch von der sprachlichen Seite her nicht in Zweifel zu ziehen ist.
Das anthropologische Moment pflegte in nahezu allen Darstellungen jener Epoche eine vorrangige Stellung einzunehmen, und zwar durchaus zugunsten der Wenden: Ihnen sagt der Wirtschafts- und Staatswissenschaft- ler J. E. Schmohl (1781) nach, daß sie „bei großen körperlichen Kräften auch große Geisteskräfte besitzen“, sowie „auf Recht und Ordnung halten“ 57 , Chr. A. Peschek (1790) schildert die Männer „als muskulös, stark,
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