GOTTHARD ERLER (Berlin)
„... dafj das Kleine bestimmt sei, zu Großem zu führen“ Der unveröffentlichte Romanentwurf „Melusine von Cadou- dal"
Unter den Beständen des Theodor-Fontane-Archivs in Potsdam befindet sich ein Romanentwurf, der von der Forschung zwar schon mehrfach herangezogen wurde (vgl. u. a. Renate Schäfer, Fontanes Melusine-Motiv; in: Eupho- rion, Bd. 56/1962, S. 69 ff.), jedoch bislang nicht gedruckt war. Selbst Walter Keitel, der im fünften Band der Hanser-Ausgabe (München 1966) ein halbes Hundert Fontanescher Entwürfe und Stoffsammlungen dankenswerterweise zugänglich gemacht hat, ist an dieser Skizze vorübergegangen.
Dabei markiert sie nicht nur eine bemerkenswerte Phase in Fontanes Rezeption des Melusine-Motivs und ist nicht allein als Präfiguration der Rolf- Krake-Episode im „Stechlin" aufschlußreich; das Brouillon „Melusine von Ca- doudal" legitimiert sich vielmehr durch sein Thema als ein eigenständiger, spezifisch Fontanescher Erzählansatz. Was Fontane im Sommer 1895 - der „Likedeeler'-Plan ist noch nicht aufgegeben, das „Stechlin'-Projekt beginnt gerade erst zu keimen - zur erzählerischen Gestaltung reizte, das war offenbar das Motiv von der moralischen Überlegenheit der Unterlegenen, vom ethischen Vorteil der Benachteiligten - ein Motiv, das ihn wie die Melusine-Gestalt ein Lebenlang beschäftigt hat.
So schrieb er etwa am 11. April 1850 in seiner letzten Korrespondenz für die „Dresdner Zeitung": „Der ungarische Feldzug [gemeint ist die brutale Unterdrückung des ungarischen Freiheitskampfes 1849) hat eine doppelte Lehre gegeben: er hat gezeigt, welcher unendlichen Kraftanstrengungen ein begeistertes Volk fähig ist und wie kümmerlich die Mittel sind, auf wie tönernen Füßen der Riese steht, mit welchem man jene Kraft niederhalten und, wenn's sein muß, vernichten will. Der Himmel bedient sich immer der Kleinen und scheinbar Machtlosen zu seinen größten Zwecken. Goliath unterlag dem David, die Blüte österreichischer Macht zerschellte bei Sempach, und was geschah, kann wiederum geschehen." Entsprechend heißt es in einem Brief an Henriette von Merckel vom 20. September 1857 gelegentlich des Sepoy-Aufstandes in Indien: „Man hat ein Volk, das, in ähnlicher Weise wie die Italiener, Anspruch auf unsre Sympathien, auf Bewunderung ihrer hohen Geistesgaben hat, oft mit Brutalität, immer aber mit stupider Selbstüberschätzung niedergetreten, und ich freue mich stets, wenn in Fällen solcher oder ähnlicher Unbill der Rückschlag kommt und wenn die getretene Schlange siegreich nach jener Stelle zischt, wo die überlegene, aber rohe Kraft verwundbar geblieben ist."
Dieses Motiv läßt sich bis zu den zahlreichen plebejischen Frauengestalten in Fontanes späten Romanen weiterverfolgen, in denen ebendiese „Kraft der Schwachen" überzeugend Gestalt gewinnt. Und „Melusine von Cadoudal' sollte sich, soweit das die überlieferten Aufzeichnungen erkennen lassen, sogar leitmotivisch mit diesem Gedanken auseinandersetzen. Freilich wird Fontane sehr bald gespürt haben, daß die Banalität der skizzierten Handlung dieses Thema nicht zu tragen vermocht hätte, und da überdies die Figur der Melusine Barby-
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