Ghiberti im „Stechlin" die wesentlichen Elemente (mythologische Verwandtschaft, Begriff der Demut) in viel sublimierterer Form in sich aufnahm, blieb „Melusine von Cadoudal" (die — um ein Fontane-Wort zu variieren — neben Melusine von Barby nicht bestehen kann) Entwurf. Ein Entwurf allerdings mit manch reizvollen Ansätzen. In der Stachelbeerenszene und in der ironisierten Traurede, im Gespräch über die „Schulfuchser" in der Armee und im Hinweis auf Gambetta und die französische Revanchepolitik um 1875 ist der „alte Fontane" ganz und gar gegenwärtig.
Das Konvolut „Melusine von Cadoudal" umfaßt 22 kleinformatige Blätter. Der Text ist mit Tinte auf die Rückseiten von Briefkonzepten Fontanes sowie von zerschnittenen Briefen verschiedener Korrespondenzpartner an Fontane (u. a. Rodenberg, Brahm) geschrieben. Diese Briefe legen auch die Datierung auf den Sommer 1895 nahe. Vermutlich im September 1895 nahm der Dichter den wahrscheinlich im Juni/Juli entstandenen Entwurf wieder vor und notierte auf einem weiteren, großformatigen Blatt unter der Überschrift Melusine (vgl. unten) seine Korrekturen an der Charakteristik der Heldin, die - wie meist in Fontanes Manuskripten - wieder in erzählenden Text übergehen („Erstes Gespräch zwischen ihm und ihr"). Die Datierung dieser nachträglich fixierten Bemerkungen ergibt sich aus einem auf diesem Blatt aufgeklebten und mit beschriebenen Teil eines Briefes von der Redaktion „Die Romanwelt' mit dem Poststempel „10. Sep. 95".
Melusine von Cadoudal
Bescheidne Pension, außerdem war ihr (in einer kl. Stadt) ein Haus zugefallen, dessen Parterre sie bewohnte. Der erste Stock stand leer. Außerdem waren Hofgebäude da und ein Stall. Alles - die Pension stammte aus einer Familienstiftung - hatte einem alten Anverwandten gehört, der sehr entfernt war, aber dem Fräulein Melusine, als der einzigen Trägerin seines (danach gestrichen: berühmten) Namens, das Haus hinterlassen hatte. Der Stall führt nun zu dem Eheglück des Paares.
Melusine hatte wenig Verkehr in der Stadt, trotzdem es an Standesgenossen beiderlei Geschlechts nicht fehlte. Die Schwierigkeit lag in ihrer Kirchlichkeit, richtiger in ihrem Bekenntnis. Wäre dies von einer gewissen Allgemeingültigkeit gewesen, hätte sie sich als Herrnhuterin, als Quäkerin, als Methodistin, als böhmische Brüdergemeinde (noch einige halb komische aufzählen) rubrizieren lassen, so wäre vielleicht ein Finden Gleichgestimmter möglich gewesen, sie hatte sich aber eine eigne Religion zurechtgemacht, in der bestimmte Sätze der schärfsten Orthodoxie (grade diese bevorzugte sie) mit vollkommner Frei- heitlichkeit - Freigeisterei wäre nicht das rechte Wort gewesen - wechselte, so daß ein Sichfinden auf diesem willkürlich aufgezimmerten Glaubenspodium sehr unwahrscheinlich war. Sie hatte sich auch darin ergeben und fand ihr Genügen darin, an allen Wohltätigkeitsvereinen, sie mochten einen Namen
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