Heft 
(1969) 9
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Ghiberti imStechlin" die wesentlichen Elemente (mythologische Verwandt­schaft, Begriff der Demut) in viel sublimierterer Form in sich aufnahm, blieb Melusine von Cadoudal" (die um ein Fontane-Wort zu variieren neben Melusine von Barby nicht bestehen kann) Entwurf. Ein Entwurf allerdings mit manch reizvollen Ansätzen. In der Stachelbeerenszene und in der ironisierten Traurede, im Gespräch über dieSchulfuchser" in der Armee und im Hinweis auf Gambetta und die französische Revanchepolitik um 1875 ist deralte Fon­tane" ganz und gar gegenwärtig.

Das KonvolutMelusine von Cadoudal" umfaßt 22 kleinformatige Blätter. Der Text ist mit Tinte auf die Rückseiten von Briefkonzepten Fontanes sowie von zerschnittenen Briefen verschiedener Korrespondenzpartner an Fontane (u. a. Rodenberg, Brahm) geschrieben. Diese Briefe legen auch die Datierung auf den Sommer 1895 nahe. Vermutlich im September 1895 nahm der Dichter den wahr­scheinlich im Juni/Juli entstandenen Entwurf wieder vor und notierte auf einem weiteren, großformatigen Blatt unter der Überschrift Melusine (vgl. un­ten) seine Korrekturen an der Charakteristik der Heldin, die - wie meist in Fontanes Manuskripten - wieder in erzählenden Text übergehen (Erstes Ge­spräch zwischen ihm und ihr"). Die Datierung dieser nachträglich fixierten Be­merkungen ergibt sich aus einem auf diesem Blatt aufgeklebten und mit be­schriebenen Teil eines Briefes von der RedaktionDie Romanwelt' mit dem Poststempel10. Sep. 95".

Melusine von Cadoudal

Bescheidne Pension, außerdem war ihr (in einer kl. Stadt) ein Haus zugefal­len, dessen Parterre sie bewohnte. Der erste Stock stand leer. Außerdem waren Hofgebäude da und ein Stall. Alles - die Pension stammte aus einer Familien­stiftung - hatte einem alten Anverwandten gehört, der sehr entfernt war, aber dem Fräulein Melusine, als der einzigen Trägerin seines (danach gestri­chen: berühmten) Namens, das Haus hinterlassen hatte. Der Stall führt nun zu dem Eheglück des Paares.

Melusine hatte wenig Verkehr in der Stadt, trotzdem es an Standesgenossen beiderlei Geschlechts nicht fehlte. Die Schwierigkeit lag in ihrer Kirchlichkeit, richtiger in ihrem Bekenntnis. Wäre dies von einer gewissen Allgemeingültig­keit gewesen, hätte sie sich als Herrnhuterin, als Quäkerin, als Methodistin, als böhmische Brüdergemeinde (noch einige halb komische aufzählen) rubrizie­ren lassen, so wäre vielleicht ein Finden Gleichgestimmter möglich gewesen, sie hatte sich aber eine eigne Religion zurechtgemacht, in der bestimmte Sätze der schärfsten Orthodoxie (grade diese bevorzugte sie) mit vollkommner Frei- heitlichkeit - Freigeisterei wäre nicht das rechte Wort gewesen - wechselte, so daß ein Sichfinden auf diesem willkürlich aufgezimmerten Glaubenspodium sehr unwahrscheinlich war. Sie hatte sich auch darin ergeben und fand ihr Genügen darin, an allen Wohltätigkeitsvereinen, sie mochten einen Namen

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