„sich einen moralischen Halt zu geben, was ihr nicht gelang." Vor veränderte Verhältnisse gestellt, erweist sich die Anna der geplanten Novelle als „tüchtig" und „rehabilitiert sich" 48 . Durch ihr Eintreten für ihr „Vergehen" („Es bleibt meine Schuld. Und ich will sie tragen und ihre Folgen. Denn wir haben Kraft und freien Willen und Erkenntnis und wir können uns wehren gegen alles") 47 zeigt die Heldin Charaktereigenschaften, die sie vor dem Zerbrechen bewahren und bei Ausführung der Entwürfe vielleicht zu einer der stärksten Frauengestalten Fontanes gemacht hätte. Das Schwergewicht der Novelle sollte naturgemäß in der bereits skizzierten Handlung mit ihren aus der Verheimlichung geborenen Komplikaionen, Annas Verzweiflung, Flucht nach Amerika und Rückkehr, nicht in der allerdings am meisten ausgearbeiteten Charakteristik des Vaters liegen, was eine Notiz Fontanes auf einem angehefteten Zettel ausdrücklich betont: „Die L. P.-Novelle muß einen sachlichen Xitel bekommen, nicht einen persönlichen." Der im zweiten Entwurf angedeutete, im besten Sinne moderne, damals allerdings unerhörte Ausgang, nämlich Anerkennung des Kindes durch den am „Fehltritt" unbeteiligten späteren deutsch-amerikanischen Ehemann Annas, der sie liebt und schätzt, und glückliches Alltagsleben zu dritt 48 , mag eine der Ursachen für die Unausführbarkeit der Novelle gewesen sein.
Die Entstehung der Charateristik des Vaters 49 , dem Pietsch in vielen Stücken wenn auch nicht ausschließlich, Modell gestanden hat, darf, da sie im zweiten Entwurf enthalten ist, in den achtziger Jahren vermutet werden. Viele aui lose Zettel verstreute Einzelheiten und Änderungen im Handlungsablauf lassen auf ein wiederholtes Eindringen in den Stoff schließen. Fontanes besonderes Interesse bei der Ausarbeitung dieses Charakters galt Pietschs ehemaligem Kontakt zum Kreis der „Freien", der im vormärzlichen Berlin eine besondere Rolle gespielt und den Grundstein für die journalistische Schulung und für manche Anschauungen L. P.'s gelegt hatte. Von diesen „modernen Titanen, welche der Religion, der Ehe, dem Eigentum den Krieg erklärten, und ihre geistreichen Bacchanalien feierten, wobei die Philosophie mit der Prostitution, der absolute Gedanke mit dem Berliner Straßenwitz fraternisierte" - wie Max Ring es ausdrückt 50 - hatte Fontane 1840 und später die Bekanntschaft Julius Fauchers, in den sechziger Jahren Bruno Bauers und anderer gemacht. Am Ende seines Lebens äußerte er die Meinung, daß „diese Hippel- schen Weinkneipenleute" - zu ihnen gehörten vor allem noch Edgar Bauer, Max Stirner und Ludwig Buhl - ihm zwar „gänzlich unsympathisch", aber das „denkbar Bemerkenswerteste dieser Art von Menschen waren, und daß wir gegenwärtig sicherlich nichts haben, was ihnen an Bedeutung, an Vorbildlichkeit und auch an Wirksamkeit an die Seite gesetzt werden kann." 51 In den Zusammenkünften der „Freien" wurde „der Sinn für eine geordnete Debatte über öffentliche Angelegenheiten" geweckt und in die akademischen Hörsäle übertragen; sie waren die „wesentlichste Vorschule der Berliner Journalistik, wie sie bald nach den Märztagen so üppig emporsproßte." 52 Ihre „Genies" - so meint Fontane im Zusammenhang mit Faucher - konnte man sich „ohne bestimmte moralische Defekte nicht gut vorstellen. . . Jedes richtige Genie war auch zugleich Pump- und Bummelgenie." Ausdrücklich forderte er Pietsch, als den einzigen, der noch dazu in der Lage sei, zu Mitteilungen über
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