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Teuerster Pietsch!
Berlin, 22. November 1878
Wenn ich Ihnen die Geschichte von Storm schon erzählt habe, so müssen Sie sie heut zum zweiten Male hören. Als Robert Prutz im seligen «Deutschen Museum" über ihn geschrieben hatte: „er sei sans phrase ein lyrischer Dichter, ein Dichter comme il faut" 1 , kam er in dem bekannten Kostüm mit langem hin und her bammelndem Wollshawl zu uns, erzählte von seinem Glück und wandte sich dann an meine damals noch hübsche Frau mit der Frage: „Was raten Sie mir, daß ich tue?" Ich war bei der ganzen Szene nicht zugegen, und meine Frau schloß, als ich nach Hause kam, ihren Bericht darüber mit den Worten: „Ich hätte ihm am liebsten geantwortet, lassen Sie sich vor allem einen neuen Rock machen." Wir beide können uns das Geständnis machen, daß er dessen in der Regel dringend bedürftig war. Brillante Lyriker waren nie Schneiderleute.
Seien Sie herzlichst bedankt. Am Kaffeetisch wurde ich gleich mit den Worten empfangen: „Eingehender und liebevoller' - und dann kam noch ein drittes Wort, das ich, weil es mich angeht, verschweigen muß - „ist nie über dich geschrieben worden.' 2 Es war eine glückliche Stunde, und wenn es Ihnen eine besondere Freude gemacht hat, das Kind des „starken Mannes" nicht als 18 Jahre lang unerkannte Baronin abschließen zu sehen, so hat es mir eine riesige Freude gemacht, daß Sie meine Absicht hier ganz und gar erraten haben. 2 Die Natur adelt; alles andre ist Unsinn, und eine der mir degoutantesten Erscheinungen ist es immer gewesen, gerade in den Romanen liberaler und allerliberalster Schriftsteller, den Hauslehrer oder die Gouvernante, wenn sie heldisch-siegreich auftreten, sich schließlich immer als Graf oder Gräfin entpuppen zu sehen. Wenn auch nur von der Bank gefallen. Nochmals besten Dank.
Wie immer Ihr Th. Fontane
Gedruckt nach der Schreibmaschinenabschrift im Fontane-Archiv Potsdam (vgl. Fontanes Briefe in zwei Bänden. Ausgew. von Gotthard Erler, Berlin und Weimar 1868, 1. Band, S. 461).
Kommentar
1 Wie mit Hilfe von H.-E. Teitges verdienstvoller „Storm-Bibliographie" (Berlin 1967) festgestellt werden konnte, hat Robert Prutz im „Deutschen Museum. Zeitschrift für Literatur, Kunst und öffentliches Leben" Neuerscheinungen von Theodor Storm des öfteren mit großem Wohlwollen besprochen. In den Jahren 1854 und 1855, die allein für den erwähnten Besuch in Frage kommen, gebrauchte Prutz die von Fontane angeführte Wendung allerdings nicht wörtlich. In Nr. 1 vom 1. Januar 1854 hatte er z. B. über Storm als Verfasser der „Gedichte" gesagt: „Sein Realismus ist so harmonischer, so tief poetischer Natur..." In Nr. 1 vom 1. Januar 1855 bewunderte er in den drei Sommergeschichten von „Im Sonnenschein" (Berlin 1854) „nicht bloß den graziösen Meißelschlag, sondern... auch den warmen Herzschlag eines Poeten, den Schlag eines Herzens, das sich mit uns freut und mit uns klagt." In dem letztgenannten Literatur- und Kunstbericht begrüßte Prutz auch das
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