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Berlin, 23. Dezember 1885
Teuerster Pietsch!
Sie haben mir durch Ihre beschämend freundliche Besprechung meiner Novelle 1 schon am Weihnachtsvorabend eine Weihnachtsfreude gemacht. Daß sich etwas von Wehmut mit in diese Freude hineinmischt, steigert sie nur. Sie sind ja jünger als ich und stehen auch noch forsch und fest im Leben, aber auch Sie werden vielleicht empfinden, daß neue Menschen um uns her geboren wurden, die zu neuen Göttern und Götzen beten. Ich komme aus diesem Gefühl nicht mehr heraus und bin vereinsamt. Und es ist gerade an den glücklichen Tagen wie heute, daß einem dies am lebhaftesten vor die Seele tritt. Mit einer Art Schauder denkt man an die Möglichkeit, daß man rankehaft alt werden 2 und dem Mitleidsobol einer von Pietät und ähnlichen Schnurrpfeifereien emanzipierten Jugend verfallen könnte. Die paar Alten sollten deshalb, soweit es Charakter und Verhältnisse zulassen, Zusammenhalten. Über diese Allgemeinbetrachtungen vergeß ich aber die Hauptsache: die Besprechung. Alles Lob schmeckt und geht einem glatt runter, aber neben diesem süßen Alltagslob gibt es doch noch ein Festtagslob, das einen erquickt, stärkt, erhebt. Kein Zucker, sondern Wein. Sie haben Menzel und Turgenjew genannt’ 1 , und zu beiden blicke ich als zu meinen Meistern und Vorbildern auf. Es ist die Schule, zu der, soweit meine Kenntnis reicht, nur noch Rudolf Lindau gehört/* Heyse (so groß sein Talent) nicht, weil er nicht richtig empfindet. 5 Keller und Storm, beide von mir verehrt, sind Erscheinungen für sich. Hopfen wäre famos, wenn er nicht nebenher auch noch Hopfen wäre. Er hat zuviel von sich selbst. Hasige Hasen schmecken nicht. In „Nord und Süd' stehen sehr interessante Turgenjewsche Briefe. 6 Nochmals besten Dank. Empfehlung Ihren Damen.
Wie immer Ihr Th. Fontane
Gedruckt nach der Schreibmaschinenabschrift im Fontane-Archiv Potsdam (vgl. Fontanes Briefe in zwei Bänden. Ausgew. von Gotthard Erler, Berlin und Weimar 1968, 2. Band, S. 142-143).
Kommentar
1 In der Schreibmaschinenabschrift steht: Novellen. Pietschs Besprechung in der VZ Nr. 598 vom 23. Dezember 1885 galt jedoch nur der einen Novelle „Unterm Birnbaum'.
2 Der Historiker Leopold von Ranke starb 1886 einundneunzigjährig.
3 Pietsch hatte u. a. geschrieben: „Jede tragische oder düster endende Erzählung läßt sich kurz und leicht damit abfertigen und charakterisieren: ,Eine Kriminalgeschichte'!... Fontanes köstliche kleine Erzählung .Unterm Birnbaum’, zuerst in der .Gartenlaube' abgedruckt, nun in einem eleganten Bändchen als Buch erschienen, hat dieselbe Bezeichnung und Aburteilung über sich ergehen lassen müssen. .. Die Mord- und Kriminalgeschichte bildet den Kern der Erzählung. Aber es ist nicht nur das Unheimliche, das Grausen der Tat und das Interesse an dem ferneren Schicksal der Täter, was den Leser der Novelle so gefesselt und gebannt hält, daß er das Buch nicht aus der Hand zu legen vermag, bis er zur letzten Seite gelangt ist. Die be-
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