77. Lebensjahr mit den Worten gedacht: „Seine grofjen, schönen Dichteraugen leuchten noch heute in so hellem, heiterem, jugendlichem Glanz und Feuer, sein Geist ist noch so klar und schaffenskräftig, sein Herz so warm, er trägt sein edles Haupt noch so frei und stolz, seine Haltung ist noch so aufrecht, sein Gang so weit und rasch ausschreitend, seine Bewegungen noch so eigentümlich schwungvoll elastisch wie vor Jahrzehnten. Und was er dichtet und niederschreibt, ist bei aller Altersweisheit noch so frisch, sein Humor sprudelt noch so reich und voll, seine Beobachtung der Menschen und Dinge ist noch so scharf und unbefangen wie je während seiner langen schriftstellerischen Laufbahn. Unsere Ahnungen und Vorgefühle in bezug auf uns selbst und unser eigenes Geschick täuschen und trügen uns fast immer. Es sind sicher mindestens zwanzig Jahre verflossen, seitdem Th. Fontane das schönste und tiefste seiner lyrischen Gedichte: ,0 trübe diese Tage nicht! Sie sind der letzte Sonnenschein. Wie bald schon - und es lischt das Licht. Und unser Winter bricht herein' niederschrieb. Damals mochte er wirklich des Glaubens leben, sein eigentliches geistiges Tagewerk sei getan und auch für ihn sei die Zeit gekommen, von der er sagt: ,Die Flut des Lebens ist dahin. Es ebbt mit seinem Stolz und Reiz'. Und keine Ahnung scheint ihm damals zugeraunt zu haben, daß viel später noch für ihn erst die rechte Hochflut kommen, sein Leben mit neuem Reiz geschmückt werden, daß er sein 77. Jahr nicht nur erreichen, sondern in ihm gerade die Krone seiner Werke, ,Effie Briest', schaffen sollte. Möge er auch damit und mit der seitdem schon wieder vollendeten neuesten erzählenden, echt preußisch-mär- kischen Dichtung von der Familie derer von Poggenpuhl noch lange nicht sein letztes Wort gesprochen haben, sondern dem Vorbilde seines von ihm so innig verehrten und bewunderten Freundes A. Menzel folgen und noch in seinen achtziger Jahren geistesstark und rüstig, die Jungen beschämend wie heute der .Liebling der Genossen', unter uns wandeln."
- Im Jahre 1868 hatte Pietsch seinen Vorgänger Ernst Kossak in der Abfassung von „Berliner Briefen" für die „Schlesische Zeitung" abgelöst. Bis zu seinem Tode im November 1911 - also 43 Jahre lang - schrieb er allsonnabendlich diese in der Regel sonntags erscheinenden Berichte aus dem Berliner Leben.
27
Berlin, 26. Oktober 1897
Teuerster Pietsch!
Herzlichen Dank für die „Tafel" 1 , trotzdem sie mich, bei nun bald achtundsiebzig, wie ein Grabstein ansieht. Aber wenn auch. Irgendein Philosoph hat, glaub ich, mal gesagt: wie's ist, ist es am besten. Und wenn der einem zuständige Zustand der geworden ist, dafj man nicht mehr ist, wird es wohl auch am besten sein.
Bei meiner Rückkehr aus Karlsbad schon vor vier Wochen und mehr 2 , fand ich Ihre Karte vor und wollte gleich schreiben, bin aber vof mich quälender und durchaus nicht zu erledigender Arbeit (dicker Romanwälzer) 3 nicht dazu ge-