Heft 
(1969) 9
Seite
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Berlin, 14. Dezember 1897

Teuerster Pietsch!

Nicht um Ihnen für den Teil, sondern für das Ganze 1 zu danken, diese Zeilen. Rochow, Raumer und ich sehen mit Ihnen, wie sie bei Kollege Bosses Worten aufhorchen und den letzten Tag, wo sie ohnehin ran müssen, für gekommen glauben. Sie können indes noch lange stille liegen, es wird nichts so heiß ge­gessen, wie's gekocht wurde. 2

Die Anzapfung heute früh im Leitartikel der Vossin ist aber doch etwas zu stark. 3 Wenn mir jemand ungemein freundlichGuten Tag" sagt, so beschäftige ich mich nicht mit der Frage, ob er gestern abend an seinem Stammtisch ge­sagt hat:F. ist ein Esel", sondern ich erwidere seinen Gruß in aller Höflich­keit. Es könnte dasselbe gesagt werden, aber der Ton ist falsch. Sich hinter Gesinnungstüchtigkeit flüchten, geht nicht.

Wie immer Ihr Th. Fontane

Erstdruck nach der Schreibmaschinenabschrift im Fontane-Archiv Potsdam. Kommentar

1 Pietsch hatte im Abendblatt der VZ Nr. 583 vom 13. Dezember 1897 unter seinem Signum L. P. einen ArtikelDas Karl-Frenzel-Bankett" veröffentlicht, der inhaltlich mit einem von ihm verfaßten ungezeichneten LeitartikelVom Ministerium des Geistes" in der Morgenausgabe der VZ Nr. 584 vom 14. De­zember 1897 zusammengehörte.

2 Auf diesem von Pietsch beschriebenen Bankett, das zu Ehren des 70. Ge­burtstages Karl Frenzeis von offizieller Seite veranstaltet wurde, hielt der von 1892 bis 1899 amtierende Kultusminister Dr. Robert Bosse (1832-1901) eine Rede, in der er u. a. auf das Verhältnis zwischen Staatsregierung und Schriftstellern einging. Pietsch schrieb:Er entwickelte in diesem Teil seiner ungemein fesselnden Rede in bezug auf diese gegenseitigen Beziehungen eine Auffassung, welche von einem preußischen Minister des Kultus, der Unterrichts- und Medizinalangelegenheiten (,das Ministerium des Geistes' verdiene diese so viel umfassende Behörde genannt zu werden) bekannt, ein frohes Erstaunen und eine begeisterte Zustimmung erweckte. Die Regie­rung schätze und respektiere aufs höchste die Freiheit und Unabhängigkeit wie der Wissenschaft so auch des Schriftstellers ... Er trank auf die freie Geistesarbeit, das freie unabhängige Schriftstellertum! - Die alten toten Herren Minister von Wittgenstein, von Rochow, von Raumer und der selige Metternich müssen sich im Grabe umgedreht haben, wenn diese Rede eines preußischen Ministers an ihre Geisterohren gedrungen wäre." (Gustav Adolf Rochus von Rochow - 1792 bis 1847 - war von 1834 bis 1842 preußischer Innenminister; auf ihn geht das Wort vombeschränkten Untertanenver­stand" zurück; Karl Otto von Raumer - 1805 bis 1859 - war von 1850 bis 1858 preußischer Kultusminister und Hauptvertreter der orthodox-absolu­tistischen Richtung.) - In diesemTeil" seiner Ausführungen bedauerte Pietsch im Anschluß an die Aufzählung der Anwesenden, daß seine Augen vergebensunsers teuren Fontane herrlichen Kopf zu erspähen suchten. So