Heft 
(1981) 32
Seite
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begriffen äußerte sich Fontaneaußerordentlich erfreut über Heinrich Seidels SelbstbiographieVon Perlin nach Berlin, und zwaraus vielen Gründen.Zunächst deshalb, weil keine Spur von der herkömmlichen Biographie darin zu finden ist. Wie schreibt der herkömmliche Biograph! ,Am 3. Oktober kam ich zum ersten Mal in das berühmte Kuglersche Haus, wo ich den berühmten Verfasser des berühmten Liedes »An der Saale hel­lem Strande« persönlich kennenlernte. Neben ihm saß die durch Schönheit berühmte Frau Clara Kugler und die erblühende Tochter, die bestimmt war, die Gattin des ebenso durch Schönheit wie Berühmtheit berühmten Paul Heyse zu werden. 1 So geht es weiter, und mitunter werden auf 3 Seiten 30 Berühmtheiten eingeschlachtet. Sie haben das alles ganz anders gemacht und haben auch in Ihrem Bericht über Heinrich Seidel Ihren Seidelstil ruhig weiter geschrieben. Dadurch ist Ihr Buch auf einen bestimmten Ton ge­stimmt, der eben Ihr Ton ist, und darauf kommt es an. 23 Das fiktive Zitat aus einerherkömmlichen Biographie erweist sich freilich, bei näherem Hinsehen, als so fiktiv gar nicht, wie es auf den ersten Blick erscheinen will; es parodiert, teilweise mit wörtlichen Anklängen, sowohl die Me­moiren Ludwig Pietschs,Wie ich Schriftsteller geworden bin (deren erster Band 1893 erschienen war), als auch LübkesLebenserinnerungen 1 ! Rezension und Parodie lassen Fontanes eigene theoretische Konzeption der Autobiographie deutlich werden.

Den bisherigen literaturwissenschäftlichen Versuchen, die Autobiographie gattungstheoretisch zu klassifizieren, will sich diese Konzeption allerdings ebensowenig fügen wie Fontanes autobiographische Bücher selbst, beson­ders das zweite. Richtet man die Aufmerksamkeit hauptsächlich auf den Stoff und weniger auf dessen Darstellung, dann wird man geneigt sein, Von Zwanzig bis Dreißig eher in die Kategorie der Memoiren einzu­ordnen, in denen es im Unterschied zurklassischen Autobiographie mehr um die Schilderung geschichtlicher Ereignisse und Prozesse als um die Beschreibung der Entwicklung eines Individuums geht. Da nun aber Fon­tane auch dort subjektiver Beobachter und Augenzeuge bleibt, wo von ihm als Person gar nicht mehr die Rede ist, und da er sich ausdrücklich zu dieser Subjektivität bekennt, sind beide Bücher nichts weniger als bloße Memoiren. Die Fontane-Forschung ist, alles in allem genommen, diesem Problem ebenso ausgewichen wie die allgemeine Literaturtheorie. Lassen sich die Kinderjahre allenfalls noch in die Tradition der (bürgerlichen) Auto­biographie oder, der Klassifikation Fontanes folgend, des autobiogra­phischen Romans stellen, so wird beiVon Zwanzig bis Dreißig die Ver­legenheit evident.

Bestimmten Mißverständnissen und Fehlinterpretationen hat freilich Fon­tane selbst Vorschub geleistet, indem er, zum Beispiel, im Vorwort zu den Kinderjahren auf dasZeitbildliche seinerAufzeichnungen hinwies allerdings mehr als Trost für solche Leser, die in seinerKindheits­geschichte dieAllgemeingültigkeit vermissen mochten. Im Urteil der Literaturhistoriker und Literaturtheoretiker haben dieKinderjahre, ihrer geschlosseneren Form wegen, besser abgeschnitten alsVon Zwanzig bis Dreißig, wo diezeitbildlichen Elemente streckenweise das wörtlich

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