begriffen — äußerte sich Fontane „außerordentlich erfreut“ über Heinrich Seidels Selbstbiographie „Von Perlin nach Berlin“, und zwar „aus vielen Gründen“. „Zunächst deshalb, weil keine Spur von der herkömmlichen Biographie darin zu finden ist. Wie schreibt der herkömmliche Biograph! ,Am 3. Oktober kam ich zum ersten Mal in das berühmte Kuglersche Haus, wo ich den berühmten Verfasser des berühmten Liedes »An der Saale hellem Strande« persönlich kennenlernte. Neben ihm saß die durch Schönheit berühmte Frau Clara Kugler und die erblühende Tochter, die bestimmt war, die Gattin des ebenso durch Schönheit wie Berühmtheit berühmten Paul Heyse zu werden. 1 So geht es weiter, und mitunter werden auf 3 Seiten 30 Berühmtheiten eingeschlachtet. Sie haben das alles ganz anders gemacht und haben auch in Ihrem Bericht über Heinrich Seidel Ihren Seidelstil ruhig weiter geschrieben. Dadurch ist Ihr Buch auf einen bestimmten Ton gestimmt, der eben Ihr Ton ist, und darauf kommt es an.“ 23 Das fiktive Zitat aus einer „herkömmlichen Biographie“ erweist sich freilich, bei näherem Hinsehen, als so fiktiv gar nicht, wie es auf den ersten Blick erscheinen will; es parodiert, teilweise mit wörtlichen Anklängen, sowohl die Memoiren Ludwig Pietschs, „Wie ich Schriftsteller geworden bin“ (deren erster Band 1893 erschienen war), als auch — Lübkes „Lebenserinnerungen 1 ! Rezension und Parodie lassen Fontanes eigene theoretische Konzeption der Autobiographie deutlich werden.
Den bisherigen literaturwissenschäftlichen Versuchen, die Autobiographie gattungstheoretisch zu klassifizieren, will sich diese Konzeption allerdings ebensowenig fügen wie Fontanes autobiographische Bücher selbst, besonders das zweite. Richtet man die Aufmerksamkeit hauptsächlich auf den Stoff und weniger auf dessen Darstellung, dann wird man geneigt sein, „Von Zwanzig bis Dreißig“ eher in die Kategorie der Memoiren einzuordnen, in denen es — im Unterschied zur „klassischen“ Autobiographie — mehr um die Schilderung geschichtlicher Ereignisse und Prozesse als um die Beschreibung der Entwicklung eines Individuums geht. Da nun aber Fontane auch dort subjektiver Beobachter und Augenzeuge bleibt, wo von ihm als Person gar nicht mehr die Rede ist, und da er sich ausdrücklich zu dieser Subjektivität bekennt, sind beide Bücher nichts weniger als bloße Memoiren. Die Fontane-Forschung ist, alles in allem genommen, diesem Problem ebenso ausgewichen wie die allgemeine Literaturtheorie. Lassen sich die „Kinderjahre“ allenfalls noch in die Tradition der (bürgerlichen) Autobiographie oder, der Klassifikation Fontanes folgend, des autobiographischen Romans stellen, so wird bei „Von Zwanzig bis Dreißig“ die Verlegenheit evident.
Bestimmten Mißverständnissen und Fehlinterpretationen hat freilich Fontane selbst Vorschub geleistet, indem er, zum Beispiel, im Vorwort zu den „Kinderjahren“ auf das „Zeitbildliche“ seiner „Aufzeichnungen“ hinwies — allerdings mehr als Trost für solche Leser, die in seiner „Kindheitsgeschichte“ die „Allgemeingültigkeit“ vermissen mochten. Im Urteil der Literaturhistoriker und Literaturtheoretiker haben die „Kinderjahre“, ihrer geschlosseneren Form wegen, besser abgeschnitten als „Von Zwanzig bis Dreißig“, wo die „zeitbildlichen“ Elemente streckenweise das — wörtlich
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