Klaus Globig (Mainz)
Theodor Fontane „Grete Minde“: Psychologische Studie, Ausdruck des Historismus oder sozialpolitischer Appell?
Wenn Fontanes Stellung zu den gesellschaftlichen Problemen seiner Zeit, insbesondere zu den gesellschaftlich relevanten Klassen, Adel, Bürgertum und Arbeiterschaft, untersucht wird, so werden in erster Linie seine zeitgenössischen Novellen und Romane, hauptsächlich „Frau Jenny Treibei“, „Irrungen, Wirrungen“ und der „Stechlin“, daneben auch die späten brieflichen Äußerungen als Untersuchungsmaterial herangezogen. 1 Seine historischen Novellen haben in dieser Beziehung weniger Beachtung gefunden, und insbesondere „Grete Minde“ wurde (nicht nur bezüglich dieser Frage) von den Literaturwissenschaftlern stiefmütterlich behandelt. „Grete Minde“ wird häufig als nur „chronikalische Novelle“, aus dem Interessenkreis der „Wanderungen“ heraus entstanden, mißverstanden. 2 Selbst in dem umfangreichen Werk Walter Müller-Seidels über Fontane mit dem Untertitel „Soziale Romankunst in Deutschland“ 3 wird „Grete Minde“ — übrigens im Unterschied zu der fast gleichzeitig entstandenen Novelle „Schach von Wuthenow“ — nur als Ausdruck des Historismus des 19. Jahrhunderts angesehen. 4
Diese Geschichte über die Entwicklung eines Tangermünder Patrizierkindes, das aus seinen gesellschaftlichen Bindungen herausfällt und „frei“, auch frei vom väterlichen Erbe, umherzieht, bis es sein Erbe zurückfordert, abgewiesen wird und aus „Haß und Liebe“ 6 beziehungsweise „Trotz“ 6 seine Heimatstadt zerstört, hat in letzter Zeit durch die adäquate Verfilmung Heide Genees zwar Aufmerksamkeit gefunden, in welcher Weise das soziale Anliegen des Autors in seiner Zeit in dieser Novelle Ausdruck gefunden hat, wurde jedoch nicht herausgearbeitet.
Die These, zu der irrt folgenden hingeführt werden soll, ist, daß Fontane neben der psychologischen Studie mit „Grete Minde“ einen Appell an seine Zeitgenossen beabsichtigt hat, der gerichtet ist auf die Versöhnung der Klassen, auf sozialpolitische Integration der Arbeiterschaft durch Gewährung von Teilhabe an den materiellen Erfolgen der Gesellschaft, und zwar sowohl aus humanitären Gründen wie aus Gründen der Selbsterhaltung der bürgerlichen Gesellschaft seiner Zeit: ein Anliegen, das wir sozial- reformerisch beziehungsweise sozialpolitisch nennen können 7 und das seit etwa 1835 in dieser Form in Deutschland von Politikern verschiedenster Couleur 8 vertreten wurde.
Fontane selbst hat in den erhaltenen Äußerungen zu „Grete Minde“, soweit ersichtlich, nur von seiner Absicht gesprochen, mit dieser Novelle eine „psychologische Aufgabe“ lösen zu wollen. 9 Andererseits zeigen spätere Bemerkungen, daß er diese Novelle äußerst sorgfältig und genau erarbeitet hat und daß sie in jeder Hinsicht exakt durchdacht ist: „Daß dies ein Kunstwerk ist, eine Arbeit, an der ein talentvoller, in Kunst und Leben heran- gereifter Mann fünf Monate lang unter Dransetzung aller seiner Kraft tätig gewesen ist, davon ist nicht die Rede“. 10 Die Betonung, daß Fontane diese