Heft 
(1981) 32
Seite
706
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Klaus Globig (Mainz)

Theodor FontaneGrete Minde: Psychologische Studie, Ausdruck des Historismus oder sozialpolitischer Appell?

Wenn Fontanes Stellung zu den gesellschaftlichen Problemen seiner Zeit, insbesondere zu den gesellschaftlich relevanten Klassen, Adel, Bürgertum und Arbeiterschaft, untersucht wird, so werden in erster Linie seine zeit­genössischen Novellen und Romane, hauptsächlichFrau Jenny Treibei, Irrungen, Wirrungen und derStechlin, daneben auch die späten brief­lichen Äußerungen als Untersuchungsmaterial herangezogen. 1 Seine historischen Novellen haben in dieser Beziehung weniger Beachtung gefunden, und insbesondereGrete Minde wurde (nicht nur bezüglich dieser Frage) von den Literaturwissenschaftlern stiefmütterlich behandelt. Grete Minde wird häufig als nurchronikalische Novelle, aus dem Interessenkreis derWanderungen heraus entstanden, mißverstanden. 2 Selbst in dem umfangreichen Werk Walter Müller-Seidels über Fontane mit dem UntertitelSoziale Romankunst in Deutschland 3 wirdGrete Minde übrigens im Unterschied zu der fast gleichzeitig entstandenen NovelleSchach von Wuthenow nur als Ausdruck des Historismus des 19. Jahrhunderts angesehen. 4

Diese Geschichte über die Entwicklung eines Tangermünder Patrizierkindes, das aus seinen gesellschaftlichen Bindungen herausfällt undfrei, auch frei vom väterlichen Erbe, umherzieht, bis es sein Erbe zurückfordert, abgewiesen wird und ausHaß und Liebe 6 beziehungsweiseTrotz 6 seine Heimatstadt zerstört, hat in letzter Zeit durch die adäquate Verfilmung Heide Genees zwar Aufmerksamkeit gefunden, in welcher Weise das soziale Anliegen des Autors in seiner Zeit in dieser Novelle Ausdruck gefunden hat, wurde jedoch nicht herausgearbeitet.

Die These, zu der irrt folgenden hingeführt werden soll, ist, daß Fontane neben der psychologischen Studie mitGrete Minde einen Appell an seine Zeitgenossen beabsichtigt hat, der gerichtet ist auf die Versöhnung der Klassen, auf sozialpolitische Integration der Arbeiterschaft durch Gewäh­rung von Teilhabe an den materiellen Erfolgen der Gesellschaft, und zwar sowohl aus humanitären Gründen wie aus Gründen der Selbsterhaltung der bürgerlichen Gesellschaft seiner Zeit: ein Anliegen, das wir sozial- reformerisch beziehungsweise sozialpolitisch nennen können 7 und das seit etwa 1835 in dieser Form in Deutschland von Politikern verschiedenster Couleur 8 vertreten wurde.

Fontane selbst hat in den erhaltenen Äußerungen zuGrete Minde, soweit ersichtlich, nur von seiner Absicht gesprochen, mit dieser Novelle eine psychologische Aufgabe lösen zu wollen. 9 Andererseits zeigen spätere Bemerkungen, daß er diese Novelle äußerst sorgfältig und genau erarbeitet hat und daß sie in jeder Hinsicht exakt durchdacht ist:Daß dies ein Kunst­werk ist, eine Arbeit, an der ein talentvoller, in Kunst und Leben heran- gereifter Mann fünf Monate lang unter Dransetzung aller seiner Kraft tätig gewesen ist, davon ist nicht die Rede. 10 Die Betonung, daß Fontane diese