der „Eisenacher“ SDAP mit dem lassalleschen ADAV zur SAPD war der politische Einfluß der Sozialdemokratie immens gewachsen: 1877 hatte diese Partei in Deutschland etwa eine halbe Million Wähler, 1878 entfielen allein in Berlin etwa 51 000 Wählerstimmen auf die Sozialisten.
Auch auf andere Weise hatte die Arbeiterschaft Aufsehen erregt und ihre — zwar erst in den Anfängen stehende, aber unübersehbare — Macht demonstriert: Im Herbst 1871 streikten 8 000 Chemnitzer Metallarbeiter, im Sommer 1872 standen 20 000 Ruhrbergarbeiter im Ausstand, und die Beschäftigung Bismarcks sowie des Kaisers selbst ab etwa 1878 mit der sozialen Frage 1 '* zeigen, welche Bedeutung auch die Spitze des Staates der Arbeiterfrage beimessen mußte.
Fontane hat diese Entwicklung sehr genau und kritisch verfolgt.
In dieser politisch aufgeregten Zeit des Jahres 1878 lag es nahe, auch künstlerisch auf die Herausforderungen zu reagieren, die die Gesellschaft bewegten. In dem ebenfalls im Jahr 1878 entstandenen Romanfragment „Allerlei Glück“, das das Leben einer zeitgenössischen Berliner Familie schildert, läßt Fontane die Figur, die am ehesten seine eigene Position verkörpert (Burke), deutlich Verständnis für diejenigen äußern, die das herrschende gesellschaftliche und staatliche System ablehnten: Wie es mehrere Wege zum Glück gebe, gebe es auch mehrere „Morale“, von denen keine Moral Anspruch auf Allgemein Verbindlichkeit erheben könne. Wenn er (Burke) auch keinem zur Auflehnung raten wolle, so beurteile er den, der sich gegen die herrschende Moral und Ordnung auflehne, nicht nach der herrschenden, für verbindlich gehaltenen Moral, sondern nach seinen (Burkes) eigenen, subjektiven Maßstäben für Gerechtigkeit und Moral.
Als Reaktion auf zeitgenössische politische Probleme ist die Novelle „Grete Minde“ bislang noch nicht gewürdigt worden, obwohl dafür eine Reihe von unübersehbaren Hinweisen sprechen.
Fontane hat besonders der Stoff gereizt: „Es ist ein brillanter Stoff.“ 15 „Übrigens nichts spezifisch märkisches, trotzdem ich mir die Szenerie (Tangermünde etc.) der Lokaltöne halber, die so wichtig sind, zweimal angesehen habe.“ 16 „Ein brillanter historischer Stoff.“ 17
Der Vergleich des historischen Stoffs mit der Geschichte, die Fontane schrieb, zeigt charakteristische Änderungen, die allein in der in der Anfangsthese dargelegten Absicht des Autors begründet sein können. Das historische Vorbild, der historische Stoff (der von Amtsgerichtsrat Parisius einige Jahre nach dem Erscheinen der Novelle erforscht und niedergeschrieben wurde) unterscheidet sich in wesentlichen Punkten von der Handlung, die Fontane entfaltet. Dies jedoch nicht etwa, weil Fontane die historischen Fakten nich,t gekannt hätte: Seine Briefe zeigen vielmehr, daß er ausführliche historische Vorstudien getrieben hat. Städtebeschreibungen Tanger- mündes und Salzwedels sowie Wolbrücks „Geschichte der Altmark“ lagen ihm vor. 10
Fontane nennt auch keine Jahreszahl, um die Zeit der Handlung seiner Novelle zu fixieren: Auch das deutet darauf hin, daß er zwar eine historische Novelle aus der Zeit vor dem Dreißigjährigen Krieg schreiben wollte,
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