Stimmung des Bürgertums passenden Aussage der Novelle: Die Gestalt Grete Mindes vermittelt ja zunächst Verständnis für einen Akt des „individuellen Terrors“, der aus gerechter Empörung über ungerechte Behandlung entstanden ist. Schon das mußte in einer Zeit auf die staatstragenden Kräfte provozierend wirken, in der zweimal kurz hintereinander ein Attentat auf das Staatsoberhaupt verübt worden war.
Der Appell zur Übung sozialer Gerechtigkeit war zwar weniger provozierend, vertraten diese Position doch immerhin beachtliche Kreise des Bürgertums (etwa der Kreis der sogenannten „Kathedersozialisten“ um Schmoller), doch war auch dies eine offiziell nur geduldete politische Position, die noch keinesfalls auf die Unterstützung einer großen Zahl der Angehörigen der „gebildeten Stände“, geschweige denn der Bourgeoisie, rechnen konnte. Diesen mußte vielmehr, soweit sie die Novelle nicht nur als unterhaltsame Geschichte auffaßten, ihre gesamte Tendenz widerstreben.
Gerade auch in „Grete Minde“ wird aber die Künstlerschaft Fontanes deutlich. In beispielhafter Weise entwickelt er einen historisch verbürgten Stoff folgerichtig, lebendig und formal überzeugend (die „Simplizitätssprache“, die hierbei häufig gerügt wurde, und die archaisierenden Wendungen tragen als legitime künstlerische Mittel nicht wenig zur Schaffung der Atmosphäre der Novelle bei). Die historische Konstellation der sozialen Kräfte der „erzählten Zeit“, der Zeit vor dem Dreißigjährigen Krieg, wird dabei deutlich und adäquat dargestellt, gleichzeitig werden Parallelen zu der Situation der Erzählzeit, dem Jahre 1878, angelegt, ohne daß Fontane jemals plump mit dem Zeigefinger deutet noch aus der erzählten Zeit herausfällt. In dieser Novelle wird das verwirklicht, was als Anspruch an die künstlerische Gestaltung eines historischen Stoffes zu erheben ist: ohne Verbiegung der historischen Gestalten und Situationen den Zeitgenossen einen Spiegel vorzuhalten, der ihnen die eigenen Handlungen möglicherweise in einem deutlicheren Licht erscheinen läßt, ihnen auch für ihre eigene Zeit gültige Erkenntnisse vermittelt. Daß dieser Spiegel, gerade wenn es kein Zerrspiegel, sondern ein klarer und verzerrungsfreier Spiegel ist, nicht unbedingt geliebt wird, daß man lieber eine Verschleierung des eigenen Bildes als die unangenehme Realität sehen würde, ist verständlich und läßt auch verstehen, warum Fontane trotz der auch hier bewiesenen formalen Meistersch|aft nicht den Erfolg erringen konnte, auf den er Anspruch gehabt hätte — diese Wahrheitsliebe bewirkt aber, daß das Werk Fontanes seine Bedeutung behalten wird und auch an Beachtung hinzugewonnen hat, seit auf Grund des Zeitabstandes die unangenehmen Wahrheiten weniger treffen.
Anmerkungen
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Vgl. etwa Mommsen, Katharina: Gesellschaftskritik bei Fontane und Thomas Mann, Heidelberg 1973.
Vgl. Sleper, Clara: Der historische Roman und die historische Novelle bei Raabe und Fontane, Weimar 1930, S. 8.
Theodor Fontane. Soziale Romankunst In Deutschland. Stuttgart 1975.
Auch Bosshart, Adelheid, ln: Theodor Fontanes historische Romane, Winterthur 1957, S. 42 ff. sowie Elllnger, Edeltraud, ln: Das Bild der bürgerlichen Gesellschaft bei Th. Fontane, Wtirzburg 1970, S. 89 fl., erwähnen keine anderen Gesichtspunkte.