Heft 
(1981) 32
Seite
714
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der kinematographische Film ist im Grunde das wirkliche epische Theater. Es ist nämlich eine Kunstform, welche mit Bildern von photographierten Menschen erzählt, was sich zwischen ihnen abgespielt hat. Und dadurch, daß diese Menschen miteinander sprachlich fechten, ist das Dramatische in den Film so sehr hineingekommen, daß es Theoretiker gibt, die der Meinung sind, der Film sei eine Form des Dramas ... der Film ist ein episches Dokument. Er erzählt mit den Bildern photographierter Menschen Ereignisse und Vorgänge, womöglich aus der Generation des Dichters gegriffen ... 2

Die sowjetischen Regisseure S. Eisenstein, W. Pudowkin und M. Romm haben auf die plastisch>-montagehaften Vorleistungen der Epik des 19. Jahrhunderts für die Herausbildung des realistischen Film hingewiesen. Eisenstein erläuterte an Ausschnitten ausAnna Karenina und der Kreutzersonate bildhafte Struktur und Komposition. Pudowkin, der Tolstoi als seinen Lieblingsschriftsteller betrachtete, würdigte die Plastizität der Tolstoischen Epik mit folgenden Worten:Tolstoi ist für mich der einzige Schriftsteller, der die Wirklichkeit absolut identisch wiedergibt. Das von ihm gestaltete Leben empfinde ich als existent in allen seinen Formen, Farben und Tönen... Als ich die Gerichtsszene in dem Film ,Die Mutter gestalten wollte, überflog ich, nochmals ,Auferstehung, um das Gericht zu sehen, um zu begreifen, wie es ist. 3 Neben der Epik Tolstois ,ist vor allem das einfühlsame Theater K. Stanislawskis in die Filme Pudowkins und in die realistische Filmkunst überhaupt eingeflossen. Romm, der sich während der Arbeit an der Verfilmung von Maupassants NovelleFettklößchen der inneren Verwandtschaft von Film und Prosa bewußt wurde, bemerkt in seinem AufsatzLiteratur und Film, daß der gute Prosaist bildhaft schreibe und daß man überall in der Literatur auf Elemente filmischen Sehens stoße. Als Belege für den bildhaften und filmischen Charakter der guten Prosa führt er Ausschnitte aus erzählenden Werken Puschkins, Flauberts und Tolstois an.

Die kritisch-realistischen Romane des 19. Jahrhunderts sind für Drehbuch­autoren und Filmregisseure vor allem wegen der Darstellung der dialek­tischen Einheit von Mensch und Umwelt, wegen der Lokalisierung der Gespräche und dank der Behandlung von Licht und Farbe fruchtbare Studienobjekte bzw. entgegenkommende Grundlagen für Szenarium und Drehbuch. Zu den beliebten Grundlagen von Literaturverfilmungen gehö­ren offenbar auch die Romane Fontanes, wie die Kinoverfllmungen von Effi Briest (1939, 1956 und 1974), vonMathilde Möhring (1945) und 'Frau Jenny Treibei (1951) vermuten lassen.

Zwischen Fontane und dem frühen Stummfilm mit seiner Turbulenz und Hektik gibt es notwendig keine Beziehungen. Es scheint kein Zufall zu sein, daßAnna Karenina und nichtEffi Briest stummfllmisch zum sensationell wirkenden Kurzfilm von 17 Minuten Dauer reduzierbar war. Zum einen ist der private Hauptkonflikt bei Tolstoi stärker zugespitzt, zum anderen war der russische Schriftsteller damals weltliterarisch bereits weithin bekannt. Der verinnerlichte Stummfilm der 20er Jahre hätte Fon­tane schon eher entsprechen können, allein seine Dialogkunst wäre mit